Das Licht ferner Tage
auch, ob er mit seinem Pazifismus richtig gelegen hatte – ob er gut daran getan hatte, Roosevelt zum Eintritt ins Nuklearzeitalter zu bewegen. Aber vielleicht bedauerte er auch nur, dass er die Wissenschaft immer über alles gestellt hatte, sogar über seine Lieben.
Dafür war es zu spät. Sein Leben, so bunt und erfüllt es in jungen und mittleren Jahren gewesen war, mündete in den grauen Tunnel zur Ewigkeit.
Mrs. Roszel beugte sich dicht über ihn, um seine leise Stimme zu hören. Die Worte waren deutsch, die Sprache seiner Jugend, und sie verstand ihn nicht.
… Und sie sah ihn nicht – konnte ihn nicht sehen – den Schwarm der Raumzeit-Verwerfungen, die sich in Einstein in diesen letzten Momenten zu den Worten formten: »Lieserl! Ach, Lieserl!«
Auszug aus der Aussage von Prof. Maurice Patefield, Massachusetts Institute of Technology, Leiter der ›Wurmsaat‹-Wahlkampfgruppe vor dem Kongress-Ausschuss für die Studie über die amerikanische Wählerschaft, 23. September 2037:
Nachdem es offenbar geworden war, dass die WurmCam nicht nur Wände durchdringen, sondern auch in die Vergangenheit zurückreichen konnte, hatte sich die Menschheit mit einem an Besessenheit grenzenden Eifer ihrer Geschichte an sich zugewandt.
Zunächst sahen wir professionelle ›faktische‹ WurmCam- Filme, die von großen Ereignissen wie Kriegen, Attentaten und politischen Skandalen handelten. So lieferte zum Beispiel die Multi-Blickpunkt-Rekonstruktion der unsinkbaren Titanic neue und erschreckende Erkenntnisse und widerlegte zugleich das Seemannsgarn, das fantasievolle Fabulierer gesponnen hatten. Das Ereignis spielte sich zudem in finsterer Nacht im Nordatlantik ab.
Bald gaben wir uns mit den Interpolationen der Dokumentare nicht mehr zufrieden. Wir wollten es mit eigenen Augen sehen.
Der streiflichtartige Rückblick auf Momente der jüngeren Geschichte hat Banales zutage gefördert, der Welt aber auch neue Erkenntnisse beschert. Die traurige Wahrheit über Elvis Presley, O.J. Simpson und den Tod der Kennedys hat sicher niemanden überrascht. Andererseits haben die Enthüllungen über die Ermordung so vieler prominenter Frauen – von Marilyn Monroe über Mutter Theresa bis zu Diana, Prinzessin von Wales sogar eine Gesellschaft aufgewühlt, die ständig mit schockierenden Wahrheiten konfrontiert wird. Die Existenz einer Kabale frauenfeindlicher Männer, deren Aktivitäten gegen (ihrer Ansicht nach) zu mächtige Frauen über Jahrzehnte sich hinzogen, haben beide Geschlechter dazu veranlasst, ihr Verhältnis zu überdenken.
Viele dokumentarische Fassungen historischer Ereignisse – die Kuba-Krise, Watergate, der Fall der Berliner Mauer, das Scheitern des Euro – waren für Ideologen interessant, erwiesen sich aber als widersprüchlich, verworren und komplex. Es ist eine beunruhigende Erkenntnis, dass selbst jene, die vermeintlich an den Schalthebeln der Macht sitzen, von dem, was um sie herum vorgeht, in der Regel wenig wissen – und es noch weniger verstehen.
Bei allem Respekt vor der großen Tradition dieses Hauses: Fast alle Schlüsselereignisse in der Menschheitsgeschichte scheinen Konstrukte zu sein, wie auch die großen Leidenschaften im Grunde nur plumpe und manipulative Kunstgriffe sind.
Und was noch schlimmer ist, die Wahrheit erweist sich in aller Regel als langweilig.
Die fehlenden Strukturen und die unauffindbare Logik in der wahren Geschichte, die nun in ihrer ganzen Banalität über uns hereinbricht, sind – außer für die Gelehrten – eine solche Zumutung, dass man wieder Zuflucht zu ausgeschmückten Episoden nimmt: Geschichten, die mit einer einfachen narrativen Struktur den Zuschauer in den Bann schlagen. Wir brauchen einen Handlungsrahmen, der die bloßen Fakten überwölbt…
Toulouse, Frankreich. 14. Januar 1636 A.D.
In der Stille des staubigen Studierzimmers nahm er seine geliebte Ausgabe von Diophantus’ Arithmetica zur Hand. Freudig blätterte er zum Zweiten Buch, Problem 8 und suchte nach einem Federkiel.
… Hingegen ist es unmöglich, eine Kubikzahl als die Summe zweier Kubikzahlen, die vierte Potenz als die Summe zweier vierter Potenzen oder eine beliebige Zahl – mit einer größeren Potenz als die zweite – als Summe zweier gleicher Potenzen darzustellen. Ich habe einen eleganten Beweis für diese Behauptung erbracht, für den der Rand aber zu schmal ist …
Bernadette Winstanley, eine vierzehnjährige Schülerin aus Harare, Zimbabwe, buchte Zeit für ihre Schul-
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