Das Lied der alten Steine
ritten zurück zum Fluss.
Als sie staubig und erhitzt ankamen, fanden sie das Boot in großer Aufregung. Einer der Reisenden, die die Rückkehr nach Kairo geplant hatten, war krank geworden und so hatte man ihr eine Koje auf dem Dampfer besorgt, der am nächsten Tag ablegte. Die Zeit war knapp, wenn sie das Angebot wahrnehmen wollte. Sie musste ihre Sachen packen, sich bei allen verabschieden, unverzüglich ihre Koffer in die Barkasse verladen und sich zum Dampfer hinüberbringen lassen.
Später war sie froh, dass alles so schnell gegangen war. Zum Zurückblicken war keine Zeit. Kaum Zeit, um Lebewohl zu sagen. Mohammed und der Reis weinten, als sie das Boot zum letzten Mal verließ, ebenso Katherine Fielding, die zu ihrer großen Freude ihr Baby Louis nach ihr benannt hatte. Venetia bot ihr eine kalte Wange und nur die Andeutung eines Lächelns.
David Fielding und Sir John umarmten sie wie zwei große Bären. Augusta nahm ihre Hände und drückte sie. »Die Zeit heilt alle Wunden, meine Liebe«, sagte sie sanft. »Sie werden die schlimmsten Augenblicke vergessen und die guten im Gedächtnis behalten.«
Es war seltsam, so zu reisen, mit dem stetigen Maschinengeräusch und dem Rauschen der Schaufelräder als Hintergrund für ihre Gedanken. Man war nicht mehr dem launischen Wind ausgeliefert. Die Flussufer mit ihrem dahingleitenden Panorama von Palmen und üppigem Getreide, die Shaduf, die das Wasser unablässig aus dem Fluss auf die Felder hoben, während sie vorüberfuhren, die dahintrottenden Wasserbüffel, die Esel, die Fischerboote – das alles beobachtete sie vom Deck aus, ihre geröteten Augen hinter einer Rauchglasbrille verborgen; sie machte Skizzen, schrieb die eine oder andere Zeile in ihr Tagebuch, um ihren Bericht der Ägyptenreise zu einem Abschluss zu bringen, und sie schlief.
Sie erreichte London am 24. April. Eine Woche später war sie wieder mit ihren Söhnen vereint. Erst am 29. Juli, an einem warmen Nachmittag, als sie in dem kühlen, von Bäumen beschatteten, auf der Rückseite ihres Londoner Hauses gelegenen Zimmer arbeitete, das sie als Studio benutzte, öffnete sie die erste der Kisten mit den Gemälden und Skizzenbüchern aus Ägypten und holte sie nacheinander heraus. Sorgsam stellte sie sie ringsum an den Wänden auf und begutachtete sie kritisch, dabei gestattete sie sich zum ersten Mal die Erinnerung an die Hitze und den Staub, die blauen Wasser des Nils, die blendende Helligkeit des Sandes, die Tempel und Monumente mit ihren Skulpturen, Bildern und Erinnerungen an eine längst verblichene Vergangenheit. Sie hielt inne und schaute aus dem Fenster auf das Gartenquadrat hinter dem Haus. Ihre Welt, die englische Welt, war überwiegend grün, sogar hier in London. Die Wüste und der Nil waren für sie nun nichts weiter als Erinnerungen.
Sie bückte sich, um die letzten Gemälde aus der Kiste zu holen, und zog die Stirn in Falten. Da war ihre alte Tasche. Sie musste sie dazu benutzt haben, die Bilder festzuklemmen. Sie zog sie heraus und starrte sie voller Wehmut an. Die Tasche hatte sie auf allen ihren Malreisen begleitet. Auch jetzt waren noch Pinsel und Farben darin. Sie stellte sie auf den Tisch und durchwühlte sie, um alles herauszuholen.
Das Parfümfläschchen war immer noch in die fleckige Seide gewickelt und mit einem Band zugebunden. Sie starrte lange Zeit darauf, bis sie sie langsam auszuwickeln begann.
Sie hatte die Flasche aus der Tasche genommen. Sie hatte sie nach der Schlange geworfen. Da war sie ganz sicher. Sie wusste noch, wie sie sie in der Hand gehalten hatte. Sie wusste noch, wie sie sie angeschaut hatte, als sie aus dem Sonnenlicht in den Schatten des Grabes trat.
Sie ließ die Seide auf den Boden fallen, stand da und betrachtete die Flasche, wie sie auf ihrer Handfläche lag. Dann bekam sie eine Gänsehaut. Wieder war sie zurückgekommen.
Ob sie sie jemals loswerden konnte? »Hassan.« Sie flüsterte leise den Namen. »Hilf mir.« Sie hatte Tränen in den Augen, als sie sich zu dem kleinen Sekretär wandte, wo sie normalerweise saß, um ihre Korrespondenz zu erledigen.
Sie öffnete den Deckel, zog eine der Schubladen heraus und fasste hinein, um einen kleinen Hebel zu drücken, der das Geheimfach öffnete. Dort legte sie die Flasche hinein und sah sie einen Augenblick an, dann führte sie ihren Finger an die Lippen und drückte ihn leicht auf das Glas. Den Zettel mit der dazugehörigen Geschichte hatte sie in ihrem Tagebuch gelassen, das immer noch, seit
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