Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
mich keine Sekunde aus den Augen ließ. O Gott. Wollte er mich küssen? Er wollte mich küssen! Meine Lider flatterten, und ich konnte ihn spüren, er war so dicht, dass ich seine Wärme auf meinem Gesicht fühlen konnte. Jeden Moment …
»Auf die Beine!«
Verfluchte … Pheme fegte wie ein Wirbelsturm den romantischen Moment hinweg. Thomas zog sich sofort zurück und fuhr sich verlegen über die Haare, ohne mich anzusehen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, die Sirene zu erwürgen. Zu einem falscheren Zeitpunkt hätte sie gar nicht auftauchen können.
Nachdem Thomas mir auf die Füße geholfen hatte, sah ich, dass Pheme einen alten Armeerucksack über der Schulter trug. Back to Business!
»Was ist da drin?«
»Sphären«, antwortete sie knapp. »Eine Spezialität der Nymphen. Es gibt sie mit Feuer, Eis und Trugbildern.«
»Trugbilder klingen interessant. Kann ich eine davon haben?« Das war das mindeste, was sie mir schuldig war, nachdem sie in mein Liebesleben gepfuscht hatte. Ich streckte eine Hand nach dem Rucksack aus, doch Pheme zog ihn rasch zurück.
»Davon gibt es erst etwas, wenn es nötig ist. Niemand spielt mit den magischen Waffen, Kinder!«
Nachdem wir uns von Galatea verabschiedet hatten, stiegen wir in den Mustang. Ich wollte gerade fragen, wie die Nymphe jetzt zurück nach Moskau kommen sollte, als die Tür einer Werkshalle aufschwang und ein riesiger Pick-up zum Vorschein kam.
»Um die Nymphen brauchen wir uns wohl keine Sorgen mehr zu machen.« Aiko winkte der vorbeibrausenden Galatea.
»Okay, dann lasst uns nach Macius suchen«, fasste Pheme noch mal den Beschluss zusammen, den wir nach einer relativ kurzen Diskussion gefällt hatten. Die Götter konnten warten. »Allerdings sollten wir uns vorher noch ein wenig Unterstützung von einem Volk holen, das zahlenmäßig eines der größten ist.«
»Und das wären?«
»Die Satyren.«
»Die Ziegenmänner?«, platzte es aus mir heraus. Den Namen hatte ich ihnen wegen der ziemlich unansehnlichen Abbildung im Götterlexikon verpasst. Wenigstens wusste ich endlich mal, wovon die Rede war.
»Sag das besser nicht in ihrer Anwesenheit. Satyren, die in Griechenland auch Pans genannt werden, sind sehr stolz und eitel. Außerdem stehen sie in dem Ruf, die besten Liebhaber weltweit zu sein.«
»Pfffft«, kam es aus Thomas’ Ecke.
Pheme grinste. »Du hattest noch nie mit ihnen zu tun, stimmt’s? Ich sage dir, diese Burschen sind wirklich ziemlich gut.«
»Ach, und das weißt du aus eigener Erfahrung?«
Pheme wurde rot, ich kicherte. Das könnte interessant werden.
»Dann schauen wir sie uns doch mal an!«, schlug ich vor, was mir einen bösen Blick von Thomas einbrachte. Ich grinste. »Wo finden wir sie? Etwa in Griechenland?«
Vielleicht könnten wir einen kleinen Abstecher an den Strand einlegen. Irgendwas Gutes musste unsere Europa-Rundreise doch haben.
Pheme grinste breit. »In Griechenland leben die Satyren schon lange nicht mehr. Wir fahren nach Paris.«
Nach vierzehn Stunden Fahrt, in denen sich Thomas und Pheme am Steuer abwechselten, machten wir bei einem Gasthof an der deutsch-französischen Grenze halt. Es sah richtig romantisch aus, beinahe wie auf einem Postkarten-Bauernhof. Das Haus hatte ein rotgedecktes Spitzdach, Fachwerk durchbrach die hellen Mauern, und an einer Seite rankte wilder Wein in die Höhe, an dem nur noch vereinzelt ein paar rot- und gelbgefärbte Blätter und verschrumpelte Beeren hingen. Das Sonnenlicht ließ die Pfützen auf dem Hof glitzern.
»Sieht nach einem Ort aus, an dem uns die Harpyien nicht vermuten würden«, bemerkte Aiko, als wir ausstiegen.
»Woher willst du das wissen?«, entgegnete ich. »Immerhin haben die Biester auch mein Wohnheim gefunden.«
»Aber dieser Ort sieht viel zu friedlich aus. Wahrscheinlich würden sie nicht mal den Anblick ertragen.«
Na, hoffentlich hatte sie recht.
Beim Hineingehen ins Haus bemerkte ich eine alte Frau in einem Rollstuhl vor dem benachbarten Wohnhaus. Die Falten auf ihrem Gesicht verrieten, dass sie schon sehr betagt war. Ihr schneeweißes Haar war zu einem Knoten im Nacken zusammengesteckt, sie trug einen Mantel, und über den Knien war eine Decke ausgebreitet. Auf ihrer Nase saß ein wenig schief eine Hornbrille. Ihr Anblick rührte mich irgendwie, und in meiner Brust zog sich etwas sehnsuchtsvoll zusammen. Ich hatte nie eine Großmutter gehabt, denn die Eltern meines Vaters waren bereits verstorben, als ich geboren wurde. Wenn andere Kinder
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