Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
immer erzählt hatten, dass ihnen die Oma vorgelesen hatte, konnte ich nur bedrückt schweigen. Nicht einmal mein Vater hatte mir etwas vorgelesen.
Wenigstens hatte ich meine eine Großmutter bei meinen Echo-Visionen schon zu Gesicht bekommen, aber das war beileibe nicht dasselbe wie eine lebende Verwandte.
»He, wo bleibst du?«, hörte ich Thomas rufen. »Oder willst du heute draußen übernachten?«
»Nein, natürlich nicht.« Ich sah noch einmal zu der Frau hinüber. Sie lächelte und hob die Hand, um uns zuzuwinken. Ich winkte zurück. Was für eine nette Oma.
»Das ist unsere Großmutter«, sagte die Wirtin, die nun zu uns trat. »Sie besteht darauf, bei Wind und Wetter auf den Hof geschoben zu werden. Sie will noch so viel wie möglich von ihrem Leben sehen, sagt sie. Und das mit sechsundneunzig.«
Ein Schauder überlief mich. Wie würde ich aussehen, wenn ich sechsundneunzig war? Wenn Macius recht hatte, konnte ich theoretisch tausend Jahre alt werden. Das war, wenn man es so nahm, eine tolle Gabe. Doch was würde aus den Menschen werden, die ich kannte und liebte. Aus Thomas? War so etwas wie eine normale Liebe für mich überhaupt möglich?
Ich blickte zu Thomas hinüber. Er würde mit sechsundneunzig hoffentlich ein rüstiger alter Herr sein, der auf eine Schar Enkelkinder blicken konnte. Und ich? Entweder würde ich dann immer noch so jung sein wie Pheme – oder tot, weil ich eine Tochter geboren hatte.
Auf einmal konnte ich den Anblick der alten Frau nicht mehr ertragen. Wenn ich Pech hatte, würde ich nie ein normales Leben führen können.
»Lass uns reingehen«, sagte ich zu Thomas, fasste ihn bei der Hand und zog ihn mit mir. Ich wollte jetzt noch nicht über meine Zukunft nachdenken.
Die Wirtsleute waren sehr freundlich, und das Abendessen, das sie uns servierten, war einfach köstlich. Da der Gasthof gut belegt war, hatten sie uns in das einzige große Zimmer einquartiert, und Pheme hatte es sich nicht nehmen lassen, ein paar Benimmregeln für Thomas aufzustellen.
»Du wirst dich beim Pinkeln hinsetzen, dich umdrehen, wenn wir uns umziehen, und dich benehmen, klar?«
Thomas nahm die Belehrung mit einem breiten Grinsen auf. »Nun mach mal halblang! Als ob ich noch nie mit euch in einem Raum übernachtet hätte.«
»Das hier ist ein anständiges Haus.«
»Und ich war bisher nicht anständig, oder wie?«
Bei dieser Bemerkung musste ich kichern. Pheme warf mir einen bösen Blick zu, doch ich wusste, dass er nur gespielt war und sie Thomas bloß ein bisschen ärgern wollte.
Als die Dämmerung hereinbrach, fielen wir alle erledigt in die Betten. Dies war die erste Nacht seit langem, die ich frisch geduscht in einem ordentlichen Bett verbrachte. Einem wunderbar weichen, kuscheligen …
Auf einmal fühlte ich mich ganz seltsam. Es war, als würde etwas in meiner Brust zusammengepresst werden. Wie ein Schwamm, den man zusammendrückte. Ohne dass ich es mir erklären konnte, schossen mir Tränen in die Augen, und mich überkam ein unbändiger Drang, zu singen.
Nein, das konnte nicht sein. Nein!
Doch das Gefühl wurde stärker, und ich konnte es nicht länger als Einbildung abtun. Es war das gleiche Gefühl, das mich immer in meinen Träumen heimgesucht hatte. O Gott, was war nur los?
Ich kletterte aus dem Bett, ging im Zimmer auf und ab und spähte zwischendurch zu den anderen, die ruhig schliefen.
Plötzlich begann ich zu summen. Erschrocken presste ich meine Hand auf den Mund, doch ich konnte den Ton nicht zurückhalten. Ich konnte nicht aufhören.
»Was soll das?«, murrte Pheme im Schlaf. »Wer singt denn hier?«
Ich musste hier raus, bevor noch alle anderen wach wurden. Oder bevor einer von ihnen liegen blieb, weil er nicht hören konnte, was ich tat.
Ohne Schuhe an den Füßen lief ich auf den Korridor, doch anstatt besser wurde es noch schlimmer. Immer weiter wurde mein Innerstes zusammengepresst. Ich schluchzte auf, die Schmerzen wurden immer schlimmer, und so ließ ich die Töne schließlich aus mir herausfließen. Der Druck in meiner Brust verschwand, aber ich spürte die furchtbare Trauer beinahe wie einen körperlichen Schmerz. Beim letzten Mal, als ich diesen Drang zum Summen gehabt hatte, war ein Schwarm Harpyien über das Wohnheim hergefallen und hatte sieben Menschen getötet. Den netten Leuten hier wollte ich das nicht antun.
Was konnte ich tun? Damals waren die Harpyien hinter mir her gewesen. Vielleicht musste ich einfach verschwinden.
Ich dachte nicht lange
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