Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
Zündschloss steckte. Mir ging spontan durch den Kopf, dass dies in Filmen immer der Moment war, in dem ein Wagen partout nicht anspringen wollte. Doch dann brummte der Motor, Thomas legte den Gang ein, und der Wagen schoss los.
Mit jaulendem Motor fuhren wir die Straße entlang und hätten beinahe einen Radfahrer erwischt, der aber gleich ganz andere Sorgen haben würde, denn ich war sicher, dass die Harpyie noch hinter uns her war. Vielleicht würde das Untier den armen Mann auch töten. Ich sah mich nicht um, sondern hockte zusammengekauert auf dem Sitz, schnappte nach Luft und murmelte einfach nur »Scheiße, Scheiße, Scheiße« vor mich hin.
Während wir in Richtung Stadtautobahn donnerten, zitterte ich wie ein Trinker, der einen kalten Entzug durchmachen musste. Meine Zähne klapperten, mein Innerstes zuckte und krampfte sich zusammen, und meine Glieder beruhigten sich selbst dann nicht, als ich die Knie anzog und sie mit beiden Armen umschloss. Doch es war nicht so, als würde ich den Kraken spüren, ich stand wohl eher unter Schock.
Ohne zu blinzeln starrte ich auf die Scheibe. Zwar bemerkte ich, dass die Häuser an mir vorbeizogen, aber ich nahm nur die Tropfen auf der Scheibe wahr. Und das Grau der Wolken, das sich immer noch nicht verzogen hatte.
Es wunderte mich, dass Thomas weder Fragen stellte noch Erklärungen verlangte. Er griff immer wieder nach meiner Hand und drückte sie, als wollte er mich trösten, ohne dass seine Augen dabei von der Straße abwichen. Er wirkte sehr konzentriert, und ich war in diesem Augenblick sehr froh, dass er bei mir war. Vielleicht war er das Letzte, was mir von meinem alten Leben bleiben würde. Das Letzte, das mir Halt geben konnte.
Mittlerweile war mir klar, dass ich die Geschehnisse der vergangenen Tage, nicht geträumt hatte. Bettina war tot, umgebracht von Harpyien. Und einige andere sicher auch. Mir wurde schlecht, wenn ich daran dachte.
»Verdammt noch mal, was war das?«
Ich schreckte zusammen, weil ich dachte, eine Harpyie sei vor unserem Auto aufgetaucht.
»Die Dinger können unmöglich echt gewesen sein.«
Aha, er war also aus seinem Schock erwacht.
»Die waren echt«, entgegnete ich. »Etwas, das nicht wirklich ist, kann wohl keinem Menschen den halben Kopf wegfressen, oder?«
Im nächsten Augenblick erschrak ich vor mir selbst. Thomas hatte es eigentlich nicht verdient, mit der Wahrheit überfahren zu werden. Doch ich konnte es nicht mehr rückgängig machen. Ich konnte nichts mehr rückgängig machen.
Arme Bettina. Der Gedanke an ihre furchtbaren Wunden ließ mich aufschluchzen. Auf einmal hatte ich vor mir, wie ihre Eltern weinend an ihrem Grab standen und nicht mal genau wussten, wie ihre Tochter umgekommen war.
Im nächsten Augenblick verbot ich mir, noch länger zu schluchzen. Ich musste stark sein. Für Bettina. Und für alle anderen, die bei dem Angriff ums Leben gekommen waren. Denn wenn ich jetzt wieder anfing zu weinen, könnte ich wahrscheinlich nicht aufhören.
»Tut mir leid wegen deiner Freundin«, sagte Thomas und legte mir erneut kurz die Hand auf den Arm. »Ich habe sie zwar nicht gekannt, aber es muss furchtbar gewesen sein.«
Ich nickte nur und wischte mir die Tränen von den Wangen. Dann kramte ich den Zettel hervor, den Macius mir gegeben hatte.
»Was ist das?«, fragte Thomas begriffsstutzig.
»’ne Adresse, das siehst du doch!«, fuhr ich ihn an, änderte meinen Ton aber gleich wieder. »Entschuldige. Das ist die Adresse einer Freundin, zu der wir fahren müssen.«
Thomas nahm den Zettel und nickte. Ich dachte erst, er wäre mir böse, aber dann merkte ich, dass er eher so aussah, als würde er verstehen, was in mir vorging. Auch wenn er noch überhaupt keine Ahnung von dem hatte, was hier wirklich passierte.
Ich konnte nicht glauben, dass ich Pheme soeben als Freundin bezeichnet hatte, aber wenn ich Macius Glauben schenken durfte, stand sie zumindest auf derselben Seite. Das war im Augenblick alles, was ich hatte.
Thomas studierte den Zettel eine Weile. Aufgeschreckt von einem Hupen hinter ihm gab er schließlich Gas. Ohne es zu merken, hatten wir uns zurückfallen lassen.
»Weißt du, wo das liegt?«, fragte ich.
»Klar!«, gab Thomas zurück und wischte sich mit einer fahrigen Geste über das Kinn. Dann fügte er mit ruhiger Stimme hinzu: »Was waren das für Wesen? Ich meine, was können wir tun, damit wir nicht mehr von ihnen verfolgt werden?«
»Das sind Harpyien«, sagte ich, während ich wieder aus dem
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