Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
Götterkindern auch andere Regeln galten? Allein bei dem Gedanken, Macius diese Frage zu stellen, spürte ich schon, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Eher würde ich mir selbst in den Hintern beißen, als ihn nach unserer Fortpflanzung zu fragen. Vielleicht wenn ich Pheme besser kannte …
Ich wechselte schnell das Thema. »Wo sind die Götter hin? Ich meine, sie hängen sicher nicht mehr auf der Erde rum, oder doch?«
»Nein, das tun sie in der Tat nicht mehr«, antwortete Macius. »Als die Götter fortgingen, ließen sie die sogenannten Wächter zurück. Diese, sofern sie sich Sterblichen zu erkennen gaben, wurden für Titanen oder Engel gehalten. Sie sind Kinder aus Verbindungen von Göttern untereinander und damit beauftragt, die Schöpfung zu bewachen. Das tun sie über einen bestimmten Zeitraum, genau genommen tausend Jahre lang.«
»Was machen die anderen Wächter in dieser Zeit?«
»Sie schlafen. An von der Menschheit längst vergessenen Orten.«
»Wie die Arktis?«
»Zum Beispiel. Wenngleich nicht alle die Kälte schätzen. Viele haben sich eine Zuflucht in wärmeren Gefilden gesucht.«
»Wie viele Wächter gibt es?« Ich fürchtete, dass er von meinen Fragen schon bald genug haben könnte, doch auch diesmal antwortete er ruhig und detailliert.
»Niemand kennt die genaue Anzahl. Wir gehen aber davon aus, dass es zwölf Wächter sind, genauso viele, wie es Sternbilder im Tierkreis gibt. Um herauszufinden, ob das stimmt, müsste man alle Perioden ihrer Wacht durchlaufen, doch so alt werden nicht einmal wir. Auch wenn uns die Abstammung von einem Gott oder einer Göttin ein längeres Leben beschert, sind wir nicht unsterblich.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, und ich spürte, dass er noch nicht am Ende war.
»Ich habe keine Ahnung, woran die Feindseligkeit der Nyxianer liegt, doch ich habe einen Verdacht. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, müsste an Beltane ein neuer Wächter erwacht sein.«
»Beltane?«
»Das alte Frühlingsfest. Die Kelten, gewissermaßen dein Ur-Volk, haben es noch in seiner althergebrachten Form gefeiert, während es in anderen Kulturen abgewandelt wurde. In Japan feiert man Hanami, wir feiern inzwischen Ostern, und in gewissen Ländern beginnt zu dem Zeitpunkt das neue Jahr.«
»Ich denke, die Wächter wachen über die Schöpfung. Wie können die Nyxianer dann ungestört Unfrieden stiften?«
»Das weiß ich leider nicht. Ich verstehe nicht, wie der Wächter tatenlos zuschauen kann.«
»Kann es sein, dass er nicht erwacht ist?«
Macius blickte mich entsetzt an. »Das wäre die schlechteste aller Möglichkeiten. Bisher hat es noch immer einen Wächter gegeben.«
Er griff in seine Hosentasche und zog etwas hervor, das wie eine getrocknete Blüte aussah. Wollte er mir jetzt Tipps geben, wie man ein Herbarium anlegte?
Macius legte das etwas traurig wirkende Gebilde auf die Handfläche und spuckte einmal darauf. Während ich noch angewidert das Gesicht verzog, begann die vertrocknete Pflanze sich zu verändern. Die Blüte entfaltete sich allmählich, wie die Rose von Jericho, die ich mal von einem Mittelaltermarkt mitgebracht hatte. Die Blütenblätter reckten sich und ließen schließlich erkennen, dass es sich um eine Seerose handelte.
»Was ist das?«, fragte ich erstaunt.
»Hast du noch nie eine Seerose gesehen?«, fragte Macius spöttisch, während er liebevoll mit dem rechten Zeigefinger über die Blätter strich, als streichelte er den Kopf eines Wellensittichs.
»Doch, das habe ich. Nur keine, die sich selbst wieder aufpumpt, nachdem sie platt in einer Tasche gesteckt hat.«
»Das ist eine der Fähigkeiten von uns Wassermännern. Wir können selbst abgestorbene Pflanzen für einen Moment wieder zum Leben erwecken. Allerdings hat diese Seerose noch eine andere Bedeutung.«
»Und welche?«
»Ich kann durch sie mit den Göttern sprechen.«
Hätte er das noch vor ein paar Tagen zu mir gesagt, hätte ich ihm einen Vogel gezeigt! Wahrscheinlich würde man ihn allein deswegen für verrückt halten, dass er mit einer Seerose sprach. Wenn er dann noch behauptete … Okay, wahrscheinlich würde er das nicht tun. Jedenfalls nicht in aller Öffentlichkeit.
»Wie stellst du das an?«
»Nun, wenn einer der Götter in der Nähe ist, dann leuchtet das Innere der Blüte blau. Ich konzentriere mich auf den Kontakt mit ihnen und …«
Mein Prusten brachte ihn zum Schweigen. Klar, es war unhöflich, aber ich konnte nicht anders. Allein die Vorstellung, wie er
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