Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
und ich verlor das Gleichgewicht. Für einen winzigen Moment hing ich bewegungslos über dem Abgrund, dann packte mich die Person hinter mir und zog mich zurück.
»Du solltest besser aufpassen.«
Die Stimme gehörte Aiko. Während ich vor Schreck noch nach Luft schnappte, registrierte ich, dass die Hand, die mich hielt, rot war. Doch Aiko hatte sich nicht vollständig verwandelt, wie ich im nächsten Augenblick sah, sonst hätte sich ja auch ihre Stimme verändert.
»Danke«, konnte ich nur hervorpressen.
»Keine Ursache«, gab sie lächelnd zurück. »Du hast ausgesehen, als könntest du ein wenig Hilfe gebrauchen.«
»Ich? Ähm …« War ich denn blöd? Sie war mir zu Hilfe gekommen, vielleicht konnte sie mir erklären, was mit mir passiert war. Macius hatte mir ja schon erzählt, dass ich mich nicht wie Aiko plötzlich, sondern kontinuierlich verwandelte. Aber vielleicht hatten diese Anfälle trotzdem etwas damit zu tun. Vielleicht waren meine Augen gerade noch heller geworden. »Mir war nicht gut.«
Aiko betrachtete mich prüfend.
Ich hätte sie so gern direkt gefragt, aber dann rutschte mir das Herz in die Hose. Was, wenn sie es albern fand, dass ich sie fragte? Ich wollte auf keinen Fall, dass sie sich später mit Pheme über mich lustig machte …
»Wie war das bei dir«, entschlüpften mir die Worte wie von selbst, »bevor du dich zum ersten Mal verwandelt hast? Hast du das irgendwie gemerkt oder so?«
Mist, ich hörte mich wie eine Zehnjährige an.
»Natürlich habe ich das gemerkt«, antwortete sie. »Schon als ich ein kleines Kind war. Meine Eltern haben mich deshalb ausgesetzt, obwohl sie wussten, dass Oni keine Dämonen sind, die Menschen schaden. Ganz im Gegenteil.«
»War einer von beiden nicht auch ein Oni?«
»Sicher, mein Vater. Doch das Verhältnis zu ihm hatte meine Mutter beendet. Sie hat nicht gewusst, wer er war, und war bereits schwanger, als sie meinen Vater heiratete. Der neue Mann wusste nichts von ihrer Liaison und glaubte, dass ich von ihm sei. Ich habe keine Ahnung, was er mit meiner Mutter gemacht hat, als er es herausfand.«
Verdammt, dagegen waren meine Probleme ja echt Kinkerlitzchen. Vielleicht war es ganz gut, dass Aiko nicht mehr wusste. Also kam ich wieder auf das eigentliche Thema. »Wie war es nun? Ich meine, als du es zum ersten Mal gespürt hast?«
»Es war wie ein Brennen, ein Feuer, das aus meinem Innersten zu kommen schien. Mehr weiß ich nicht, denn mir wurde schwarz vor Augen, und als ich wieder zu mir kam, hatte ich die Gestalt, die du in der Werkshalle gesehen hast.«
Das musste ein Riesenschock für sie gewesen sein. Auf einmal war ich ziemlich froh, dass meine Verwandlung ganz anders ablief.
»Nachdem sie mich ausgesetzt hatten, irrte ich eine Weile durch die Wälder.« Aikos Blick schweifte an mir vorbei, und ihre Miene wirkte seltsam emotionslos. Hätte sie nicht eine Stinkwut auf ihren Stiefvater haben müssen? »Ich hatte furchtbare Angst, vor der Einsamkeit und auch vor mir selbst. Irgendwann hat mich ein Bauer gefunden, der mich bei sich aufnahm.«
»Der hat sich vor deinem Wesen nicht erschrocken?«
»Er hat es gar nicht mitbekommen. Während ich allein herumlief, habe ich mich noch ein paarmal unwillkürlich verwandelt und damit einige Wanderer erschreckt, genau wie es meiner Art nachgesagt wird. Dann wurde mir allerdings klar, wie es sich ankündigte, und ich lernte, die ersten Anzeichen des Feuers zu erkennen. Als ich bei dem Bauern war, verkroch ich mich immer dann, wenn ich mich zu verwandeln drohte, in einer Höhle. Er hat nie erfahren, wer ich wirklich bin.«
Als Aiko verstummte, blieb ihr Blick in der Dunkelheit hängen.
Zu gern hätte ich erfahren, wie sie an Macius geraten war. Hatte er sie auch aus einer brenzligen Lage gerettet? Wie lange lebte sie eigentlich schon? Das Aussehen des Schulmädchens war gewiss nur Tarnung. So kühl, wie sie die Geschichte erzählt hatte, lag sie gewiss sehr lange zurück. Macius war ja auch schon über tausend Jahre alt. Das würde dann auch erklären, warum sie praktisch akzentfrei Deutsch sprach.
»Jetzt geh lieber schlafen. Macius wird morgen mit deinem Training beginnen, dazu brauchst du all deine Kraft.« Obwohl sie sanft klangen, erlaubten ihre Worte keinen Widerspruch. Sie hatte mir gerade sehr viel anvertraut, mehr als ich ihr erzählt hatte, vielleicht jemals erzählen würde. Und das wussten wir beide.
»Gute Nacht«, war das Einzige, das ich noch über die Lippen brachte, bevor ich
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