Das Lied der Dunkelheit
ausging. Und sein Wunsch, Kurier zu werden, wurde in diesem Augenblick noch stärker.
Schließlich nickte der Herzog ergeben mit dem Kopf. »Ich denke darüber nach«, erklärte er. »Es ist spät geworden. Du darfst gehen.«
»Da wäre noch etwas, Euer Gnaden«, fügte Ragen hinzu und bedeutete Arlen, er möge vortreten; doch Jone gab den Wachen ein Zeichen, die Türflügel zu öffnen, und die wichtigen Bittsteller strömten in den Saal zurück. Der Herzog schenkte dem Kurier keine Beachtung mehr, weil seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde.
Ragen fing Jone ab, als sie ihren Platz neben Euchor verließ. »Mutter«, begann er, »dieser Junge …«
»Ich habe viel zu tun, Kurier«, unterbrach Jone ihn und zuckte mit den Nasenflügeln, als nähme sie einen üblen Geruch wahr. »Vielleicht beliebt es dir, ihn ein anderes Mal wieder herzubringen, wenn ich nicht so beschäftigt bin.« Dann reckte sie die Nase in die Luft und rauschte davon.
Einer der Händler näherte sich ihnen. Er hatte die Statur eines Bären und nur ein Auge; die andere Augenhöhle füllte ein zernarbter Fleischwulst aus. Auf seiner Brust prangte ein Symbol, ein Mann hoch zu Ross mit einem Speer und einer Kuriertasche. »Schön, dass du wohlbehalten heimgekommen bist, Ragen«, sagte der Hüne. »Wirst du
morgen im Gildehaus erscheinen, um deinen Bericht abzugeben?«
»Gildemeister Malcum«, grüßte Ragen und verbeugte sich. »Es freut mich, dich zu sehen. Ich fand diesen Jungen, Arlen, auf offener Straße …«
»Er hatte sich von einer Ortschaft entfernt?«, fragte der Gildemeister überrascht. »Das war aber höchst leichtsinnig von dir, Junge!«
»Er hatte sich mehrere Tagesreisen von der nächsten Ortschaft entfernt«, stellte Ragen richtig. »Der Junge versteht sich besser auf das Zeichnen von Siegeln als viele Kuriere.« Erstaunt zog Malcum seine ihm verbliebene Augenbraue hoch.
»Er möchte Kurier werden«, ergänzte Ragen.
»Einen ehrenhafteren Beruf kannst du dir gar nicht wünschen«, erklärte Malcum dem Jungen.
»In Miln kennt er niemanden«, fuhr Ragen fort. »Ich dachte mir, er könnte mit der Gilde einen Lehrvertrag abschließen …«
»Nun, Ragen«, wandte Malcum ein, »du weißt so gut wie jeder andere, dass wir ausschließlich eingetragene Bannzeichner in die Lehre nehmen. Versuche es mal beim Gildemeister Vincin.«
»Der Junge kann bereits Siegel zeichnen«, beharrte Ragen, obwohl er einen respektvolleren Ton anschlug als in seiner Unterredung mit dem Herzog. Gildemeister Malcum war noch größer und kräftiger als Ragen und sah nicht so aus, als ob man ihm mit Anspielungen auf Nächte unter freiem Himmel Angst einflößen könnte.
»Dann dürfte es ja kein Problem sein, ihn bei der Gilde der Bannzeichner registrieren zu lassen«, meinte Malcum und wandte sich zum Gehen. »Wir sehen uns dann morgen früh«, rief er über die Schulter zurück.
Ragen sah sich um und erspähte den Mann, nach dem er Ausschau hielt, inmitten der Händlergruppe. »Beeilung, Arlen«, brummte er und durchquerte den Raum. »Gildemeister Vincin!«, rief er beim Näherkommen.
Der Mann hob den Kopf, erkannte Ragen und entfernte sich von der Gruppe, um ihn und Arlen zu begrüßen. Er verbeugte sich vor dem Kurier, aber er tat es, um seiner Hochachtung Ausdruck zu verleihen, und nicht aus Unterwürfigkeit. Vincin trug einen ölig glänzenden schwarzen Spitzbart, und sein eingefettetes glattes Haar war straff aus der Stirn gekämmt. An seinen feisten Fingern glitzerten Ringe. Das Symbol auf seiner Brust war ein Schlüsselzeichen, ein Schutzzeichen, das als Grundlage für alle anderen Siegel in einem Netz diente.
»Was kann ich für dich tun, Ragen?«, erkundigte sich der Gildemeister.
»Dieser Junge, Arlen, stammt aus Tibbets Bach«, erläuterte Ragen. »Seit einem Horcling-Angriff ist er Waise, und in Miln hat er keine Familie. Aber er möchte den Beruf des Kuriers erlernen.«
»Das ist ja alles gut und schön, Ragen, aber was hat das mit mir zu tun?«, fragte Vincin, ohne Arlen auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen.
»Malcum nimmt ihn erst als Lehrling auf, wenn er berechtigt ist, Siegel zu zeichnen«, erwiderte Ragen.
»Tja, das ist wirklich ein Problem«, pflichtete Vincin bei.
»Der Junge kann bereits Siegel zeichnen«, betonte Ragen. »Wenn du eine Möglichkeit siehst, ihn zu …«
Doch Vincin schüttelte schon den Kopf, noch ehe Ragen den Satz zu Ende gesprochen hatte. »Es tut mir leid, Ragen, aber du wirst mich nicht davon
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