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Das Lied der Dunkelheit

Das Lied der Dunkelheit

Titel: Das Lied der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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die Sammler unterwegs sind«, erwiderte Ragen. »Man gewöhnt sich daran. Früher gab es hier Kloaken, Tunnel, die unter jedem Haus verliefen und den Unrat wegbeförderten. Aber sie wurden schon vor Jahrhunderten geschlossen und versiegelt, nachdem die
Horclinge gelernt hatten, sich durch diese Kanäle Einlass in die Stadt zu verschaffen.«
    »Könnte man nicht einfach Jauchegruben ausheben?«, schlug Arlen vor.
    »Der Untergrund, auf dem Miln steht, ist felsig«, erklärte Ragen. »Wer keinen eigenen Garten besitzt, den er düngen kann, muss seine Exkremente zum Einsammeln nach draußen stellen, und sie werden auf die herzoglichen Gärten verteilt. So lautet das Gesetz.«
    »Dieses Gesetz stinkt«, fand Arlen.
    Ragen lachte. »Mag ja sein«, erwiderte er. »Aber es versorgt uns mit Nahrungsmitteln und hält die Wirtschaft in Gang. Du solltest mal die Residenz des Gildemeisters der Dungsammler sehen. Im Vergleich dazu ist meine Villa eine Elendshütte.«
    »Aber ich bin mir sicher, dass es bei dir zu Hause besser riecht«, entgegnete Arlen, und Ragen brach erneut in brüllendes Gelächter aus.
    Schließlich bogen sie um eine Ecke und gelangten an einen kleinen, aber massiv gebauten Laden; um die Fenster und den Türrahmen waren akribisch gestaltete Symbole eingekerbt. Arlen bewunderte die schöne, bis ins kleinste Detail gewissenhaft ausgefeilte Arbeit. Wer immer diese Siegel angefertigt hatte, besaß eine unglaublich geschickte Hand.
    Unter den melodischen Klängen eines Glockenspiels traten sie ein, und als Arlen das Innere des Ladens erblickte, riss er verblüfft die Augen auf. Schutzzeichen in jeder Form und Größe, aus allen nur erdenklichen Materialien, füllten den Raum.
    »Warte hier«, bat Ragen den Jungen und durchquerte den Laden, um mit einem Mann zu sprechen, der an einer Werkbank saß. Arlen bekam das kaum mit, so vertieft war er in den Anblick, der sich ihm darbot; fasziniert wanderte er in dem
Raum umher. Andächtig strich er mit den Fingern über Siegel, die als Muster in Gobelins eingewebt waren, als Ritzzeichnungen glatte Flusskiesel schmückten oder aus Metall gegossen waren. Es gab geschnitzte Holzpfähle für Äcker und tragbare Zirkel wie die, welche Ragen auf seinen Reisen dabeihatte. Er versuchte, sich die unterschiedlichen Symbole einzuprägen, aber es waren viel zu viele.
    »Arlen, komm her!«, rief Ragen ein paar Minuten später. Der Junge schreckte aus seiner Versunkenheit hoch und rannte zu ihm.
    »Das ist Meister Cob«, stellte Ragen vor und deutete auf einen Mann von ungefähr sechzig Jahren. Für einen Milneser war er klein, und er wirkte wie ein überaus kräftiger Kerl, der mit der Zeit fett geworden war. Ein buschiger grauer Bart, durchsetzt mit einigen schwarzen Strähnen, bedeckte sein Gesicht, und das kurz geschorene Haupthaar lichtete sich über der Stirn. Er hatte eine ledrige Haut voller Runzeln, und bei der Begrüßung verschwand Arlens Hand in seiner mächtigen Pranke.
    »Ragen hat mir berichtet, dass du ein Bannzeichner werden möchtest«, begann Cob und lehnte sich auf seiner Bank zurück.
    »Nein, das stimmt nicht«, korrigierte Arlen. »Ich will Kurier werden.«
    »Das will jeder Junge in deinem Alter«, meinte Cob. »Die Klugen besinnen sich anders, ehe sie getötet werden.«
    »Warst du früher nicht auch mal ein Kurier?«, fragte Arlen, den die Einstellung des Mannes verblüffte.
    »Ja, allerdings«, gab Cob zu. Er streifte einen Ärmel zurück und zeigte eine Tätowierung, die der von Ragen ähnlich sah. »Ich reiste zu den fünf Freien Städten und einem Dutzend Dörfer. Dabei verdiente ich mehr Geld, als ich glaubte, jemals ausgeben
zu können.« Er legte eine Pause ein, und Arlens Verwirrung wuchs. »Aber ich handelte mir auch das hier ein«, fuhr er fort. Er hob sein Hemd an und Arlen starrte auf entsetzlich große Narben, die quer über seinen Bauch verliefen. »Und das.« Nun zog er einen Schuh aus und präsentierte seinen verstümmelten Fuß; vier Zehen fehlten, und an ihrer Stelle befand sich eine sichelförmige Einbuchtung aus vernarbtem Fleisch.
    »Bis zum heutigen Tag«, erzählte Cob, »kann ich nicht länger als eine Stunde lang schlafen, ohne plötzlich aufzuschrecken und nach meinem Speer zu greifen. Gewiss, ich war einmal ein Kurier. Sogar ein verdammt guter, und mit mehr Glück gesegnet als die meisten anderen. Dennoch wünsche ich niemandem dieses Los. Die Arbeit eines Kuriers mag vielleicht ruhmvoll und heldenhaft erscheinen, doch für jeden

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