Das Lied der Dunkelheit
nichts, und als Cob den traurigen Ausdruck in seinen Augen sah, ließ er das Thema fallen.
»Du verbringst viel zu viel Zeit in der Stube und steckst deine Nase in Bücher«, meinte Cob und nahm Arlen den Wälzer weg, in dem der Junge gerade las. »Wann warst du das letzte Mal draußen in der Sonne?«
Arlen machte große Augen. In Tibbets Bach hatte es ihn keine Sekunde lang im Haus gehalten, wenn er die Möglichkeit hatte, im Freien herumzutollen. Doch nach über einem Jahr in Miln konnte er sich kaum noch an den Tag erinnern, an dem er sich das letzte Mal unter freiem Himmel aufgehalten hatte.
»Lauf los und stell irgendeinen Unfug an!«, befahl Cob. »Es wird dich schon nicht umbringen, wenn du dich mit Gleichaltrigen anfreundest!«
Zum ersten Mal seit einem Jahr spazierte Arlen aus der Stadt hinaus, und die Sonne tröstete ihn wie eine vertraute alte Freundin. Fernab von den Mistkarren, dem verfaulenden Gemüse und den schwitzenden Menschenmassen bot die Luft eine Frische, die er bereits vergessen hatte. Er kletterte auf einen Hügel, von dem aus man über ein Feld voller spielender Kinder blickte, zog ein Buch aus seiner Tasche und hockte sich auf den Boden, um zu lesen.
»Heh, Bücherwurm!«, rief jemand.
Arlen hob den Kopf und sah eine Gruppe von Jungen, die sich ihm näherte; ein Bursche hatte sich einen Ball unter den Arm geklemmt. »Komm, mach mit!«, schrie einer. »Uns fehlt noch ein Spieler, damit die Mannschaften gleich stark sind!«
»Ich kenne die Spielregeln nicht«, erwiderte Arlen. Cob hatte ihm zwar aufgetragen, sich Spielkameraden zu suchen, aber er fand sein Buch viel interessanter.
»Da gibt es nicht viel zu verstehen«, versetzte ein anderer Junge. »Du hilfst deiner Mannschaft, den Ball ins Tor zu befördern, und versuchst zu verhindern, dass die andere Seite ein Tor macht.«
Arlen zog die Stirn kraus. »Na schön«, gab er nach und schlenderte zu dem Jungen, der gerade mit ihm gesprochen hatte.
»Ich heiße Jaik«, stellte der sich vor. Er war mager, hatte schwarze, strubbelige Haare und eine spitze Nase. Seine Kleidung war geflickt und schmutzig. Arlen schätzte, dass er ungefähr so alt sein musste wie er, zwölf Jahre. »Und wie heißt du?«
»Arlen.«
»Du arbeitest für Cob, den Bannzeichner, stimmt’s?«, fragte Jaik. »Bist du nicht der Junge, den der Kurier Ragen auf der Straße gefunden hat?« Als Arlen nickte, weiteten sich Jaiks
Augen ein wenig, als hätte er diese Geschichte nicht geglaubt. Er ging voran auf das Spielfeld und zeigte Arlen die mit weißer Farbe bemalten Steine, die die Tore markierten.
Arlen begriff die Spielregeln schnell. Nach einer Weile vergaß er sein Buch und konzentrierte sich voll und ganz auf das gegnerische Team. Er stellte sich vor, er sei ein Kurier und die anderen Jungen seien Dämonen, die versuchten, ihn von seinem Bannzirkel fernzuhalten. Die Stunden vergingen wie im Flug, und ehe er sich versah, läutete die Abendglocke. Jeder beeilte sich, seine Sachen zusammenzuklauben, aus Angst vor der einbrechenden Dunkelheit.
Arlen hingegen holte in aller Ruhe sein Buch. Jaik kam zu ihm gerannt. »Nun mach schon!«, rief er aufgeregt. »Du darfst nicht trödeln.«
Arlen zuckte die Achseln. »Wir haben noch viel Zeit«, fand er.
Jaik warf einen Blick auf den sich verfinsternden Himmel und erschauerte. »Du bist ein sehr guter Spieler«, meinte er. »Komm morgen wieder hierher. An den meisten Nachmittagen spielen wir Ball, und am Sechsttag gehen wir auf den Stadtplatz und sehen uns die Vorstellung des Jongleurs an.« Arlen nickte unverbindlich, woraufhin Jaik lächelte und davonflitzte.
Als Arlen das Tor passierte, umhüllte ihn wieder der altgewohnte Gestank der Stadt. Er stapfte die ansteigende Gasse hoch, die zu Ragens Villa führte. Der Kurier war zurzeit unterwegs, und dieses Mal hatte er das ferne Lakton zum Ziel. Für die Dauer eines Monats wohnte Arlen bei Elissa. Sie löcherte ihn mit Fragen und machte viel Aufhebens um seine Kleidung, aber er hatte Ragen versprochen, ihre »jungen Liebhaber« wegzujagen.
Margrit hatte Arlen versichert, dass Elissa keine Liebhaber hatte. Und wenn Ragen nicht daheim war, durchstreifte sie die
Zimmerfluchten der Villa wie ein Geist oder weinte stundenlang in ihrem Schlafzimmer.
Doch mit Arlen im Haus, erklärte die Dienerin, sei sie wie verwandelt. Mehr als einmal hatte Margrit ihn gebeten, sich auf Dauer in der Villa einzuquartieren. Er hatte abgelehnt, doch vor sich selbst gab er zu, dass es ihm
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