Das Lied der Dunkelheit
begutachtete den Inhalt.
»Pomeranzenblätter sind wohl nicht dabei, oder?«, fragte sie.
Der Mann blickte ihr ins Gesicht. »Nein. Wozu auch? Es wächst doch überall Eberwurz.«
»Schon gut«, murmelte Leesha. »Also wirklich, ihr Kuriere scheint Eberwurz für ein Allheilmittel zu halten.« Sie nahm den Beutel, einen Mörser mit Stößel und einen Wasserschlauch, kniete sich neben den Mann und zerquetschte den Eberwurz und noch ein paar andere Kräuter zu einer Paste.
»Wieso denkst du, ich sei ein Kurier?«, wollte der Mann wissen.
»Wer sonst wäre allein auf der Straße unterwegs?«, fragte sie.
»Ich arbeite schon seit Jahren nicht mehr als Kurier«, erwiderte der Mann. Er zuckte überhaupt nicht zusammen, als sie die Wunden säuberte und die brennende Paste auftrug. Aus schmalen Augenschlitzen beobachtete Rojer, wie sie die Salbe über die kräftigen Muskeln verteilte.
»Bist du eine Kräutersammlerin?«, erkundigte sich der Tätowierte Mann, während sie eine Nadel in die Flammen hielt, ehe sie das Garn einfädelte.
Leesha nickte, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben. Sie strich sich eine Locke hinters Ohr und fing an, die Oberschenkelwunde zu vernähen. Als der Tätowierte Mann keinen weiteren Kommentar von sich gab, sah sie hoch, und ihre Blicke begegneten sich. Er hatte dunkle Augen, und die ringsum eintätowierten Siegel ließen es so aussehen, als lägen sie tief in den Höhlen. Leesha hielt diesem Blick nicht lange stand und senkte wieder den Kopf.
»Ich heiße Leesha«, sagte sie, »und der junge Bursche, der gerade das Abendessen zubereitet, heißt Rojer. Er ist ein Jongleur.« Der Mann nickte Rojer zu, doch genau wie Leesha vermochte auch der dem Mann nicht lange in die Augen zu sehen.
»Danke, dass du uns das Leben gerettet hast«, fuhr sie fort. Als Antwort gab der Mann nur einen brummenden Laut von sich. Sie legte eine Pause ein und wartete darauf, dass er sich nun seinerseits vorstellte, aber das schien er nicht vorzuhaben.
»Hast du keinen Namen?«, fragte sie schließlich.
»Keinen, den ich in letzter Zeit benutzt habe«, antwortete er.
»Aber irgendeinen Namen musst du doch haben«, drängte Leesha. Der Mann zuckte mit den Schultern.
»Und wie sollen wir dich nennen?«, wollte sie wissen.
»Ihr braucht mich überhaupt nicht mit Namen anzusprechen«, erwiderte er. Er merkte, dass sie mit ihrer Arbeit fertig war, zog sich von ihr zurück und hüllte sich wieder in seine grauen Gewänder. »Ihr schuldet mir nichts. Ich hätte jedem in eurer Lage geholfen. Morgen bringe ich euch sicher nach Rosengarten.«
Leesha sah zu Rojer, der beim Feuer herumwerkelte, dann wandte sie sich wieder an den Tätowierten Mann: »Daher kommen wir gerade. Wir müssen ins Tal der Holzfäller. Kannst du uns hinbringen?« Die graue Kapuze bewegte sich von rechts nach links.
»Wenn wir nach Rosengarten zurückgehen, verlieren wir mindestens eine Woche!«, jammerte Leesha.
Der Tätowierte Mann zuckte die Achseln. »Das ist nicht mein Problem.«
»Wir können dich bezahlen«, platzte Leesha heraus. Als sie seinen zweifelnden Blick auffing, sah sie verlegen zur Seite. »Natürlich nicht sofort«, räumte sie ein. »Unterwegs auf der Straße wurden wir von Banditen angegriffen. Sie haben unser Pferd, unseren Zirkel, das Geld und sogar unseren Proviant gestohlen.« Sie senkte die Stimme. »Sie haben uns … alles genommen.
« Sie blickte hoch. »Aber sobald ich im Tal der Holzfäller bin, habe ich Geld, um dich für deine Mühe zu entlohnen.«
»Ich brauche kein Geld«, erwiderte der Tätowierte Mann.
»Bitte!«, flehte Leesha. »Es steht so viel auf dem Spiel!«
»Es tut mir leid.«
Rojer trat mit finsterer Miene zu ihnen. »Lass gut sein, Leesha«, sagte er. »Wenn dieser kaltherzige Mensch uns nicht helfen will, dann helfen wir uns eben selbst.«
»Und wie stellst du dir das vor?«, schnappte Leesha. »Sollen wir uns von den Horclingen umbringen lassen, während du versuchst, sie mit deiner blöden Fiedel in Schach zu halten?«
Gekränkt drehte Rojer sich um, aber Leesha achtete nicht auf ihn, sondern wandte sich wieder dem Tätowierten Mann zu.
»Ich bitte dich inständig!« Als auch er sich abwandte, griff sie nach seinem Arm. »Vor drei Tagen kam ein Kurier nach Angiers mit der Nachricht, dass in dem Dorf der Schleimfluss grassiert. Bis jetzt sind schon ein Dutzend Leute an der Krankheit gestorben, unter anderem die beste Kräutersammlerin, die je gelebt hat. Die beiden anderen
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