Das Lied der Dunkelheit
Kräutersammlerinnen, die noch im Tal der Holzfäller wohnen, können nicht jeden behandeln. Sie brauchen meine Unterstützung.«
»Du verlangst also nicht nur von mir, dass ich meine eigenen Pläne ändere, sondern obendrein, dass ich ein Dorf aufsuche, in dem der Schleimfluss wütet?« Er klang ungehalten.
Leesha fing an zu weinen; sie fiel auf die Knie und klammerte sich an seine Gewänder. »Mein Vater ist sehr krank«, flüsterte sie. »Wenn ich nicht rechtzeitig bei ihm bin, stirbt er vielleicht.«
Zögernd streckte der Tätowierte Mann seine Hand aus und legte sie auf ihre Schulter. Leesha hatte keine Ahnung, womit
sie sein Herz erweicht hatte, aber sie spürte, dass er schwach wurde. »Bitte!«, flehte sie noch einmal.
Der Tätowierte Mann sah lange Zeit auf sie herunter. »Also gut«, gab er schließlich nach.
Das Tal der Holzfäller lag sechs Tagesritte von Fort Angiers entfernt am südlichen Rand der Angieranischen Wälder. Der Tätowierte Mann erklärte ihnen, dass sie noch viermal auf der Straße übernachten müssten, ehe sie das Dorf erreichten. Wenn sie sich jedoch beeilten und zügig vorankamen, konnte man die Reise um eine Nacht verkürzen. Er ritt neben ihnen und ließ den großen Hengst in einem langsamen Schritttempo gehen.
»Ich reite jetzt los und werde die Straße auskundschaften«, verkündete er nach einer Weile. »In ungefähr einer Stunde bin ich zurück.«
Leesha spürte, wie die kalte Angst in ihr hochkroch, als er dem Hengst die Fersen in die Seiten drückte und die Straße entlanggaloppierte. Der Tätowierte Mann flößte ihr beinahe genauso viel Furcht ein wie die Banditen oder die Horclinge, aber in seiner Gegenwart waren sie zumindest vor diesen Gefahren sicher.
Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und in ihrer Lippe pochte es, weil sie ständig daraufgebissen hatte, um nicht zu weinen. Nachdem die Männer eingeschlafen waren, hatte sie jeden Zoll ihres Körpers gründlich gewaschen, trotzdem kam sie sich immer noch beschmutzt vor.
»Ich habe Geschichten über diesen Mann gehört«, meinte Rojer. »Habe sogar selbst ein paar erzählt. Ich hielt ihn für eine Legende, aber es kann nicht zwei in dieser Weise tätowierte
Männer geben, die Horclinge mit den bloßen Händen töten.«
»Du hast ihn den ›Tätowierten Mann‹ genannt«, erinnerte sich Leesha.
Rojer nickte. »So heißt er in den Geschichten. Seinen richtigen Namen kennt niemand. Vor über einem Jahr hörte ich zum ersten Mal von ihm, als ein Jongleur im Dienste des Herzogs die Dörfer im Westen bereiste. Damals glaubte ich, der Jongleur hätte vielleicht Bitterkraut geraucht und sich die Geschichte im Rausch zusammengesponnen, aber anscheinend hat er die Wahrheit gesagt.«
»Was hat er denn erzählt?«, wollte Leesha wissen.
»Dass der Tätowierte Mann nachts nackt herumwandert und Dämonen jagt«, erwiderte Rojer. »Er meidet die Menschen und geht nur in Ortschaften, wenn er Vorräte braucht, die er dann mit uraltem Gold bezahlt. Von Zeit zu Zeit hört man Geschichten, wie er irgendwelche Leute auf der Straße gerettet hat.«
»Nun, das können wir ja bestätigen. Aber wenn er Dämonen töten kann, warum hat dann noch niemand versucht, seine Geheimnisse zu ergründen?«
Rojer zuckte die Achseln. »Wenn man den Geschichten glauben darf, dann traut sich keiner. Alle fürchten ihn, sogar die Herzöge. Besonders seit diesem Vorfall in Lakton.«
»Was ist denn passiert?«
»Es heißt, der Hafenmeister von Lakton hätte Spitzel losgeschickt, die seine Kampfsiegel stehlen sollten«, erzählte Rojer. »Ein Dutzend Männer, bewaffnet und gepanzert. Diejenigen, die er nicht getötet hat, wurden für den Rest ihres Lebens verkrüppelt.«
»Beim Schöpfer!« Leesha schnappte nach Luft und schlug sich die Hände vor den Mund. »Mit was für einem Ungeheuer sind wir unterwegs?«
»Manche Leute behaupten, er sei selbst ein halber Dämon«, stimmte Rojer zu. »Das Ergebnis einer Vergewaltigung, als ein Horcling eine Frau auf der Straße schändete.«
Er erschrak und wurde rot, als er merkte, was er gerade gesagt hatte, doch mit seinen gedankenlosen Worten bewirkte er nur, dass sich Leeshas Angst verflüchtigte. »Das ist lächerlich!«, meinte sie und schüttelte den Kopf.
»Andere sagen, er sei überhaupt kein Dämon«, fuhr Rojer fort, »sondern der Erlöser selbst, der gekommen ist, um die Menschen von dem Fluch zu befreien. Es gab schon Fürsorger, die zu ihm gebetet und ihn um seinen Segen angefleht
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