Das Lied der Dunkelheit
sich einmal um sich selbst und betrachtete die kleine Menschenschar. »Beim Schöpfer, wo sind die Leute alle geblieben?«
»Du findest sie im Heiligen Haus«, erklärte Jona. »Die Kranken sind alle dort. Wer wieder genesen ist oder durch den Segen des Schöpfers verschont blieb, sammelt draußen die Toten ein oder beklagt sie.«
»Dann gehen wir auch dorthin«, bestimmte Leesha und legte sich Jonas Arm um die Schultern, um ihn beim Laufen zu stützen. »Und jetzt erzähl mir, was passiert ist. Ich will alles wissen.«
Jona nickte. Sein Gesicht war blass, und die Augen lagen tief eingesunken in ihren Höhlen. Er schwitzte stark, hatte offenbar viel Blut verloren, und es fiel ihm sichtlich schwer, sich die Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Rojer und der Tätowierte Mann folgten ihnen schweigend, und die meisten der Dörfler, die Leeshas Ankunft gesehen hatten, schlossen sich ihnen an.
»Die Seuche brach schon vor ein paar Monaten aus«, begann Jona, »aber Vika und Darsy meinten, es handele sich nur um eine Erkältung, und nahmen das Ganze nicht so ernst. Einige Leute, die krank wurden, meistens junge, kräftige Menschen, waren schnell wieder über den Berg, aber andere mussten wochenlang das Bett hüten, und schließlich starben sogar ein paar. Trotzdem schien es sich um eine im Grunde harmlose Krankheit zu handeln, bis die Symptome immer heftiger wurden. Gesunde Menschen wurden sehr plötzlich schwer krank,
und buchstäblich über Nacht stellten sich bei ihnen eine ungeheure Schwäche und ein Fieberdelirium ein. Dann brachen auch die Feuer aus«, fuhr er fort. »Menschen, die gerade Kerzen oder Lampen in den Händen hielten, brachen in ihren Häusern zusammen oder fühlten sich zu elend, um die Siegel zu kontrollieren. Als dein Vater und die meisten Männer, die sich auf das Anfertigen von Schutzzeichen verstehen, bettlägerig wurden, versagten nach und nach überall im Ort die Netze. Hinzu kam, dass der Qualm von den Bränden und die durch die Luft fliegende Asche jedes in der Nähe befindliche Siegel ruinierten. Wir bekämpften die Feuer, so gut wir konnten, aber immer mehr Leute wurden krank, und es fehlen einfach die Helfer.
Smitt brachte die Überlebenden in ein paar geschützten Gebäuden unter, die so weit wie möglich von den Brandherden entfernt lagen, in der Annahme, in einer großen Gruppe seien die Leute etwas sicherer, doch die Enge sorgte lediglich dafür, dass sich die Seuche umso schneller ausbreitete. Letzte Nacht brach Saira während des Unwetters zusammen und warf eine Petroleumlampe um. Im Nu stand der ganze Gasthof lichterloh in Flammen, und die Leute mussten in die Nacht hinaus flüchten …« Er verstummte, und Leesha streichelte tröstend seinen Rücken. Sie hatte genug gehört und konnte sich denken, was als Nächstes passiert war.
Das Heilige Haus war das einzige Bauwerk im Tal der Holzfäller, das gänzlich aus Stein bestand; deshalb hatte es der durch die Luft wirbelnden glühenden Asche und dem Funkenflug widerstanden und ragte nun in trotzigem Stolz aus den Ruinen auf. Leesha passierte das große Portal und schnappte bestürzt nach Luft. Man hatte die Bankreihen herausgeräumt und fast jeden Zoll des Bodens mit Strohsäcken bedeckt. Vielleicht an die zweihundert Menschen lagen dort, stöhnend, viele
in Schweiß gebadet und im Fieberwahn um sich schlagend, während andere, selbst durch ihre Krankheit geschwächt, versuchten, sie zu bändigen. Sie sah Smitt ohnmächtig auf seiner Lagerstatt, und nicht weit von ihm entfernt entdeckte sie Vika. Sie fand zwei von Mairys Kindern und viele, viele Leute, an denen ihr Herz hing. Nur von ihrem Vater war keine Spur zu sehen.
Als sie das Heilige Haus betraten, blickte eine Frau hoch. Sie war vor ihrer Zeit ergraut und machte einen abgekämpften, verhärmten Eindruck, aber an ihrer stämmigen Statur erkannte Leesha sie sofort.
»Dem Schöpfer sei Dank!«, ächzte Darsy, als sie Leesha erkannte. Leesha ließ Jona stehen und eilte zu ihr, um mit ihr zu sprechen. Nach ein paar Minuten kehrte sie zu Jona zurück.
»Steht Brunas Hütte noch?«, erkundigte sie sich.
Jona zuckte die Achseln. »Soweit ich weiß, ja. Seit sie starb, ist niemand mehr dort hingegangen. Und das ist jetzt zwei Wochen her.«
Leesha nickte. Brunas Hütte lag weit außerhalb des Dorfes, versteckt hinter mehreren Reihen von Bäumen. Es war sehr unwahrscheinlich, dass die vom Wind herbeigewehte Asche die Siegel beschmutzt hatte. »Ich muss in die Hütte und neue
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