Das Lied der Dunkelheit
gleichgültigen Tonfall des Tätowierten Mannes umgeschlagen. Und tatsächlich bildeten sich auf den kleineren Schnitten und Abschürfungen bereits Krusten.
»Aber …«, protestierte Leesha, »was ist mit …?«
»Ich habe schon vor langer Zeit meine Entscheidung getroffen, und ich habe die Nacht gewählt«, erklärte er. »Einen Moment lang dachte ich, ich könnte den Entschluss rückgängig machen, doch …« Er schüttelte den Kopf. »Für mich gibt es kein Zurück mehr.«
Er bückte sich nach seinen Gewändern und strebte dem kleinen, kalten Bach zu, der in der Nähe plätscherte, um seine Wunden zu waschen.
»Du Ausgeburt des Horc!«, schrie Leesha ihm hinterher. »Du bist verrückt! Du bist besessen!«
30
Die Seuche
332 NR
Rojer schlief noch, als sie zurückkamen. Schweigend und ohne sich anzusehen tauschten sie ihre vom Schlamm beschmutzte Kleidung gegen frische Sachen aus; dann rüttelte Leesha Rojer wach, während der Tätowierte Mann die Pferde sattelte. Ohne dass ein Wort gewechselt wurde, nahmen sie das Frühstück ein, und noch ehe die Sonne sich ganz über den Horizont geschoben hatte, waren sie wieder auf der Straße. Rojer ritt hinter Leesha auf der Stute, der Tätowierte Mann saß allein auf seinem großen Hengst. Der Himmel war wolkenverhangen, und es sah wieder nach Regen aus.
»Hätten wir mittlerweile nicht einem Kurier begegnen müssen, der nach Norden reist?«, fragte Rojer.
»Du hast Recht«, erwiderte Leesha. Besorgt sah sie die Straße auf und ab.
Der Tätowierte Mann zuckte die Achseln. »Wenn die Sonne am höchsten steht, erreichen wir das Tal der Holzfäller«, erklärte er. »Ich liefere euch dort ab und ziehe meines Weges.«
Leesha nickte. »Ich glaube, das ist das Beste.«
»Du verlässt uns? Einfach so?«, wunderte sich Rojer.
Der Mann neigte den Kopf. »Hast du etwas anderes erwartet, Jongleur?«
»Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben? Bei der Nacht, ja!«, rief Rojer.
»Es tut mir leid, wenn ich dich enttäusche«, entgegnete der Tätowierte Mann, »aber ich muss mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Möge der Schöpfer verhüten, dass du eine Nacht erlebst, ohne etwas zu töten«, murmelte Leesha.
»Aber was ist mit unserer Abmachung?«, beharrte Rojer. »Du wolltest mich doch mitnehmen.«
»Rojer!«, schnauzte Leesha ihn an.
»Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass es keine gute Idee wäre«, beschied ihm der Mann. Er sah zu Leesha. »Wenn deine Musik keine Dämonen töten kann, dann nützt sie mir nichts. Es ist das Beste, wenn ich allein bleibe.«
»Da gebe ich dir aus vollem Herzen Recht!«, mischte sich Leesha ein. Sie fing Rojers wütenden Blick auf, und ihre Wangen brannten. Er hatte es nicht verdient, dass sie ihre schlechte Laune an ihm ausließ, und sie hätte gern etwas gesagt oder getan, um ihn über seine Enttäuschung hinwegzutrösten, aber jetzt brauchte sie all ihre Kraft, um die Tränen zurückzuhalten.
Sie hatte damit gerechnet, dass der Tätowierte Mann sie zurückstoßen würde. Zwar hatte sie gehofft, sie könnte sich irren, aber sie hatte gewusst, dass er sein Herz nicht lange öffnen würde, dass ihnen nur ein flüchtiger Moment des Miteinanders blieb. Aber wie sehr hatte sie sich diesen Moment herbeigesehnt! Sie wollte sich in seinen Armen geborgen fühlen und spüren, wie er in ihren Schoß eindrang. Abwesend strich sie mit der Hand über ihren Bauch. Wenn er sie geschwängert hätte, hätte sie sich über dieses Kind gefreut und es von ganzem
Herzen geliebt, ohne sich zu fragen, was für ein Mensch sein Vater war. Nun jedoch … in ihren Vorräten befanden sich genug Pomeranzenblätter, um zu tun, was getan werden musste.
Schweigend ritten sie weiter, und die Kälte, die zwischen ihnen herrschte, war fast greifbar. Nicht mehr lange, und hinter einer Kurve bot sich ihnen der erste Blick auf das Tal der Holzfäller.
Selbst aus der Ferne konnten sie sehen, dass das Dorf nur noch aus qualmenden Ruinen bestand.
Rojer klammerte sich fest, als sie die Straße entlangjagten. Als Leesha die Rauchsäulen erspähte, trieb sie ihr Pferd zu einem Galopp an, und der Tätowierte Mann folgte ihrem Beispiel. Selbst in der mit Feuchtigkeit durchtränkten Luft fraßen sich die Flammen gierig durch das Dorf, und fette, schwarze Qualmwolken verpesteten die Luft. Der Ort war verwüstet, und bei diesem schaurigen Anblick durchlebte Rojer wieder einmal die entsetzliche Nacht, als seine Heimatstadt Flussbrücke
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