Das Lied der Dunkelheit
Vorräte holen«, erklärte sie und ging wieder nach draußen. Es regnete bereits, und der trostlose, verhangene Himmel trug zusätzlich zu der Atmosphäre von Hoffnungslosigkeit bei.
Sie entdeckte Rojer und den Tätowierten Mann, die von einer Gruppe Dörfler angegafft wurden.
»Du bist es wirklich und wahrhaftig!«, rief Brianne und stürzte herbei, um sie zu umarmen. Evin stand ganz in der Nähe, auf dem Arm ein kleines Mädchen und an seiner Seite Callen, der groß geworden war, obwohl er nicht einmal zehn Sommer zählte.
Herzlich erwiderte Leesha die Umarmung. »Weiß jemand, wo mein Vater ist?«, fragte sie.
»Er ist zu Hause, wo er hingehört!«, antwortete eine Stimme. Leesha drehte sich um und sah, dass ihre Mutter sich ihr näherte, mit Gared dicht auf ihren Fersen. Leesha wusste nicht, ob sie erleichtert oder erschrocken sein sollte.
»Bist du hier, um dich um alle anderen Leute zu kümmern, statt um deine eigene Familie?«, warf Elona ihr vor.
»Mutter, ich bin doch gerade erst …«, begann Leesha, aber Elona ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Du warst noch nie um eine Ausrede verlegen! Du findest immer einen Grund, deine Blutsverwandten im Stich zu lassen, wann immer es dir passt! Dein armer Vater ringt mit dem Tod, und ich treffe dich hier dabei an, wie du …!«
»Wer ist bei ihm?«, unterbrach Leesha ihren Redeschwall.
»Seine Lehrlinge.«
Leesha nickte. »Lass ihn zusammen mit diesen Leuten hierher bringen.«
»Ich denke nicht daran!«, zeterte Elona. »Soll er sein gemütliches Federbett gegen einen verseuchten Strohsack in einem Saal voller Menschen eintauschen, die alle an der Seuche erkrankt sind?« Sie packte Leesha beim Arm. »Du wirst auf der Stelle zu ihm gehen! Du bist seine Tochter!«
»Denkst du, das hätte ich vergessen?«, schrie Leesha und riss sich los. Tränen strömten ihr über die Wangen, und sie machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. »Seit ich in Angiers alles stehen und liegen gelassen habe und so schnell wie möglich hierhergereist bin, habe ich an nichts anderes gedacht. Aber er ist nicht der einzige Kranke im Dorf, Mutter! Ich kann diese vielen Menschen nicht sich selbst überlassen und mich um einen einzigen Mann kümmern, auch wenn er mein Vater ist!«
»Du bist naiv, wenn du dir einbildest, diese Leute noch retten zu können. Sie sind bereits so gut wie tot!«, kreischte Elona. Leesha hörte, wie ein paar Umstehende, die den Streit mitbekamen, erschrocken nach Luft schnappten. Aber Elona ließ sich nicht bremsen. Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf die Steinmauern des Heiligen Hauses. »Werden diese Siegel heute Nacht die Horclinge zurückhalten?«, schrie sie, und lenkte dadurch die Aufmerksamkeit der Menge auf die durch Ruß und Asche geschwärzten Wände. Und tatsächlich war kaum noch ein Symbol zu sehen.
Sie rückte näher an Leesha heran und senkte ihre Stimme. »Unser Haus liegt weit von den nächsten Gebäuden entfernt«, flüsterte sie. »Wahrscheinlich ist es das letzte Haus im Tal der Holzfäller, das noch Schutz bietet. Für alle ist kein Platz, aber wir können uns retten. Komm mit mir!«
Leesha schlug ihrer Mutter mit der flachen Hand ins Gesicht. Elona fiel in den Matsch, blieb dort benommen sitzen und presste eine Hand gegen die sich rötende Wange. Gared sah aus, als wolle er sich auf Leesha stürzen und sie mit Gewalt fortschleppen, doch mit einem eiskalten Blick hielt sie ihn in Schach.
»Ich werde mich nicht verstecken und meine Freunde den Horclingen überlassen!«, brüllte sie. »Wir finden einen Weg, um das Heilige Haus zu schützen, und halten hier die Stellung. Alle zusammen! Und sollten die Dämonen es wagen, meine Kinder anzugreifen, dann werden sie sich wundern! Ich kenne die Geheimnisse des Feuers, und ich werde diese infame Brut für immer aus dieser Welt brennen!«
Meine Kinder, dachte Leesha in der plötzlich eintretenden Stille. Habe ich Brunas Stelle eingenommen und denke jetzt schon wie sie? Sie blickte in die Runde, sah in die ängstlichen, mit Ruß beschmierten Gesichter; keiner trat vor, um das Kommando
zu übernehmen, und zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass diese Leute sie tatsächlich als Bruna betrachteten. In ihren Augen war sie Bruna. Jetzt war sie die Kräutersammlerin im Tal der Holzfäller, und in Zeiten der Not verließ man sich auf sie. Meistens waren dann ihre Heilkünste gefragt, aber mitunter würde sie auch jemandem Blendpulver in die Augen schleudern müssen oder auf dem Hof einen Baumdämon
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