Das Lied der Dunkelheit
der Siegelpfosten. Arlen hatte es schon immer geliebt, die Schutzzeichen anzufertigen, und die wichtigsten Abwehrsymbole beherrschte er bereits in einem Alter, in dem die meisten Kinder noch gar nicht reif genug sind zum Lernen. Und bald danach konnte er schon kompliziertere Siegelnetze erstellen. Jeph hielt es schon längst nicht mehr für nötig, die Arbeit seines Sohnes zu beaufsichtigen oder sich zu vergewissern, ob ihm auch kein Fehler unterlaufen war. Arlens Hand war sicherer und ruhiger als die seines Vaters. Das Zeichnen der Siegel war nicht dasselbe, wie einen Dämon mit einem Speer zu attackieren, aber in gewisser Weise konnte man es auch als Kampf betrachten.
Jeph kam stets zur Abenddämmerung nach Hause, und Silvy hielt Wasser aus dem Brunnen für ihn bereit, damit er sich waschen konnte. Arlen half Norine und Marea, die Tiere im Stall einzusperren, und danach setzte man sich zu Tisch.
Am fünften Tag frischte der Wind am späten Nachmittag plötzlich auf, wirbelte Staubfahnen über den Hof und brachte die Scheunentür zum Klappern. Arlen konnte den herannahenden Regen riechen, und der sich verfinsternde Himmel bestätigte seine Ahnung. Er hoffte, auch sein Vater würde das aufziehende Unwetter bemerken und entweder zeitiger als sonst
heimkommen oder im Weiler übernachten. Schwarze Wolken bedeuteten, dass es früh dunkel wurde, und das wiederum lockte manchmal Horclinge an, noch ehe die Sonne vollständig untergegangen war.
Arlen ließ auf den Feldern alles stehen und liegen und rannte nach Hause, um den Frauen zu helfen, die aufgeschreckten Tiere in die Scheune zu treiben. Silvy hetzte nach draußen, schloss und sicherte die Kellertüren und überzeugte sich, dass die Siegelpfosten um die Tagespferche für das Vieh festgezurrt waren. Im letzten Moment tauchte dann Jephs Karren auf. Der Himmel verdüsterte sich sehr schnell, und die Sonnenscheibe war bereits nicht mehr zu sehen. Jeden Augenblick konnten die Horclinge aufsteigen.
»Keine Zeit, um das Pferd auszuspannen«, rief Jeph und knallte mit der Peitsche, um Missy im Galopp auf die Scheune zuzutreiben. »Das erledigen wir morgen früh. Alle sofort ins Haus!« Silvy und die beiden anderen Frauen gehorchten und eilten hinein.
»Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es!«, brüllte Arlen über das Tosen des Windes hinweg, während er seinem Vater hinterherrannte. Missy würde tagelang bocken, wenn man sie über Nacht angeschirrt ließ.
Jeph schüttelte den Kopf. »Es ist schon zu dunkel! Eine Nacht in den Deichseln wird ihr nicht schaden.«
»Dann schließ mich in der Scheune ein«, schlug Arlen vor. »Ich spanne sie aus und bleibe bei den Tieren, bis der Sturm sich gelegt hat.«
»Du tust gefälligst das, was ich dir sage!«, schnauzte Jeph. Er sprang von dem Karren, packte den Jungen beim Arm und zerrte ihn beinahe aus der Scheune.
Gemeinsam zogen sie die großen Flügel der Scheunentür zu und schoben den wuchtigen Balken vor, als ein greller Blitz den
Himmel spaltete. Die auf die Tür aufgemalten Schutzzeichen wurden einen Moment lang hell ausgeleuchtet und warnten sie vor dem, was ihnen bevorstand. In der Luft lag die Androhung von Regen.
Während sie atemlos zum Haus stürmten, suchten sie aufmerksam den Boden nach den ersten Nebelschwaden ab, die das Erscheinen der Dämonen ankündigten. Noch war der Weg vor ihnen frei. Marea hielt die Tür für sie auf, und sie flüchteten sich hinein, als die ersten dicken Regentropfen den Staub auf dem Hof aufwirbelten.
In dem Moment, in dem Marea die Tür wieder zuziehen wollte, erklang von draußen ein klägliches Jaulen. Alle erstarrten.
»Der Hund!«, schrie Marea und schnappte erschrocken nach Luft. »Ich habe ihn am Zaun festgebunden!«
»Das ist jetzt egal!«, bestimmte Jeph kurzerhand. »Schließ die Tür!«
»Was?«, platzte Arlen fassungslos heraus. Er warf sich herum und starrte seinen Vater an.
»Es ist noch nicht zu spät!«, rief Marea und flitzte aus dem Haus.
»Marea, nein!«, kreischte Silvy. Ohne zu überlegen lief sie der Frau hinterher.
Auch Arlen sprintete zur Tür, doch Jeph griff nach seinen Hosenträgern und riss ihn zurück. »Du bleibst hier!«, befahl er und steuerte selbst auf die Tür zu.
Arlen taumelte zurück, dann sauste er wieder los. Jeph und Norine standen auf der Veranda, hüteten sich jedoch, die schützende Linie der Außensiegel zu übertreten. Als Arlen die Veranda erreichte, fegte der Hund an ihm vorbei ins Haus, den Strick, der an seinem Hals hing,
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