Das Lied der Dunkelheit
den Kochtopf mit allerlei Zutaten und hängte ihn an dem Dreifuß über der Feuergrube auf. »Es ist schon erstaunlich, was die Leute alles vergessen haben.«
Ragen schürte energisch die Flammen, als Keerin zurückkam, bleich aber offensichtlich erleichtert. »Wenn wir dich heimbringen, werde ich es ihr ganz sicher erzählen.«
»Heimbringen?«, fragte Arlen.
»Heimbringen?«, wiederholte Keerin.
»Natürlich bringen wir dich nach Hause«, bekräftigte Ragen. »Dein Vater wird überall nach dir suchen, Junge.«
»Aber ich will nicht zurück«, rebellierte Arlen. »Du kannst mich mit Gewalt hinschleifen, aber sowie du mich loslässt, laufe ich wieder weg.«
Eine Zeit lang starrte Ragen ihn an. Zum Schluss warf er Keerin einen fragenden Blick zu.
»Du weißt, was ich denke«, sagte Keerin. »Ich habe nicht den Wunsch, unseren Heimweg um mindestens fünf weitere Nächte zu verlängern.«
Stirnrunzelnd wandte sich Ragen an den Jungen. »Aber wenn wir erst in Miln sind, werde ich deinem Vater einen Brief schreiben«, warnte er ihn.
»Du verschwendest deine Zeit«, meinte Arlen. »Er kommt ganz bestimmt nicht, um mich zu holen.«
Der Steinboden des Hofs und die hohe Mauer boten ihnen in dieser Nacht ein gutes Versteck. Ein großer tragbarer Bannzirkel sicherte den Karren, und in einem zweiten Kreis waren die Tiere untergebracht. Arlen, Ragen und Keerin befanden sich im Zentrum zweier konzentrischer Ringe, und genau in der Mitte brannte das Feuer.
Keerin verkroch sich in sein Bettzeug und zog sich die Decke über den Kopf. Er zitterte, obwohl die Nacht nicht kalt war, und jedes Mal, wenn ein Horcling die Siegel attackierte, zuckte er erschrocken zusammen.
»Warum greifen sie immer und immer wieder an, wenn sie doch merken, dass sie nicht durchkommen?«, wunderte sich Arlen. »Wieso geben sie nicht einfach auf und ziehen sich zurück?«
»Sie suchen nach Lücken im Netz«, erwiderte Ragen. »Niemals wirst du sehen, dass ein Horcling zweimal gegen dieselbe Stelle anstürmt.« Mit dem Finger tippte er sich an die Schläfe. »Sie haben ein gutes Gedächtnis. Horclinge sind nicht schlau genug, um die Siegel zu studieren und irgendwelche Schwachpunkte zu erkennen, deshalb rennen sie gegen die Barriere an
und versuchen sie zu durchbrechen. Das gelingt ihnen nur selten, aber immerhin passiert es noch so häufig, dass es sich für sie lohnt.«
Ein Winddämon rauschte über die Mauer und prallte von der magischen Wand ab. Bei dem Geräusch fing Keerin unter seiner Decke an zu wimmern.
Ragen blickte auf die Schlafstatt des Jongleurs und schüttelte den Kopf. »Er glaubt wohl, wenn er die Horclinge nicht sieht, dann entdecken sie ihn auch nicht«, murmelte er.
»Ist er immer so?«, wollte Arlen wissen.
»Dieser einarmige Dämon hat ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt«, erzählte Ragen. »Aber vorher war er auch keiner, der sich direkt hinter die Siegel gestellt und dem Treiben der Dämonen zugeschaut hätte.« Er zuckte die Achseln. »Ich brauchte kurzfristig einen Jongleur. Die Gilde gab mir Keerin mit. Normalerweise arbeite ich nicht mit solchen Grünschnäbeln.«
»Wieso hast du dann überhaupt einen Jongleur mitgenommen?«, erkundigte sich Arlen.
»Oh, wenn man über die Quetschen zieht, braucht man unbedingt einen«, erklärte Ragen. »Wenn man ohne Jongleur auftaucht, wird man gesteinigt.«
»Quetschen?«
»Kleine Dörfer. Nester wie Tibbets Bach«, präzisierte Ragen. »Siedlungen, die so abgeschieden liegen, dass der Arm eines Herzogs kaum noch dorthin reicht. Wo die meisten Leute weder lesen noch schreiben können.«
»Und worin besteht der Unterschied zu anderen Ortschaften?«, erkundigte sich Arlen.
»Menschen, die das Alphabet nicht kennen, haben nur wenig Verwendung für einen Kurier«, entgegnete Ragen. »Oh, sie sind ganz erpicht darauf, ihre Salzlieferungen zu bekommen
oder sonstige Bedarfsgüter, an denen es ihnen mangelt. Aber die meisten haben kein Interesse daran, einen Kurier aufzusuchen und ihm Neuigkeiten mitzuteilen, aber das Sammeln von Nachrichten ist die wichtigste Aufgabe eines Kuriers. Bringt man jedoch einen Jongleur mit, lassen die Dörfler alles stehen und liegen und kommen angerannt, um sich das Spektakel anzusehen. Es ging mir nicht nur darum, dir einen Gefallen zu tun, Arlen, als ich Reklame für Keerins Vorstellung gemacht habe. Manche Männer«, fuhr er fort, »können gleichzeitig Händler, Jongleur, Kräutersammler und Kurier sein, aber sie sind so rar wie ein
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