Das Lied der Dunkelheit
wegnehmen wollte. »Sie gehört mir!«
»Du darfst sie ja behalten, Junge«, tröstete Arrick. »Ich muss mir nur die Verletzung ansehen.« Er legte die Locke in Rojers andere Hand, und der Junge umklammerte sie fest.
Die Wunde blutete nicht stark, weil der Speichel des Flammendämons sie zum Teil ausgebrannt hatte, aber sie eiterte und stank.
»Von der Heilkunst verstehe ich nichts«, erklärte Arrick mit einem Achselzucken und spritzte Wein aus dem Schlauch auf die verletzte Stelle. Rojer schrie gellend, doch Arrick störte sich nicht daran, sondern riss ein Stück Stoff aus seinem schönen Cape, um die Wunde damit zu verbinden.
Mittlerweile weinte Rojer lauthals, und Arrick hüllte den Jungen fest in seinen Umhang. »Ist ja gut, Junge, ist ja gut«,
murmelte er, drückte Rojer an sich und streichelte seinen Rücken. »Wir haben überlebt und können unser Abenteuer weitererzählen. Das ist doch was, oder?«
Rojer konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen, und Arrick stimmte ein Wiegenlied an. Er sang, während das Dorf Flussbrücke völlig niederbrannte. Er sang, während die Dämonen tanzten und ihre menschlichen Opfer verspeisten. Seine Stimme umhüllte sie wie ein Schild, der sie vor den Gräueln da draußen abschirmte; in seinem Schutz ließ Rojer sich von seiner Erschöpfung übermannen und schlief ein.
8
Zu den Freien Städten
319 NR
J e stärker das Fieber in Arlen brannte, umso schwerer stützte er sich auf seinen Wanderstock. Er beugte sich vornüber und würgte, doch aus seinem leeren Magen kam nur Galle. Als ihm schwindelig wurde, suchte er nach einem Punkt in der Ferne, auf den er seinen Blick fixieren konnte.
Und dabei entdeckte er eine Rauchfahne.
Ziemlich weit weg ragte seitlich der Straße irgendein Gebäude auf. Eine Steinmauer, dermaßen überwuchert mit Ranken, dass ihre Struktur kaum noch zu erkennen war. Aus dieser Richtung kam der Qualm.
Die Hoffnung auf Hilfe verlieh ihm frische Kräfte, und er stolperte weiter. Er erreichte die Mauer und tastete sich daran entlang, auf der Suche nach einem Durchlass. Der Stein war schon stark verwittert und wies Risse auf; Kletterpflanzen schmiegten sich in jede Höhlung und Ritze. Ohne den stützenden Rankenbewuchs wäre die uralte Mauer einfach in sich zusammengesunken, so wie Arlen auch zusammengebrochen wäre, hätte er sich nicht an der Mauer festgehalten.
Schließlich gelangte er an einen in das Gemäuer eingelassenen Torbogen. In dem Unkraut davor lagen zwei metallene
Türflügel, die an den Angeln durchgerostet waren. Die Zeit hatte sie schlichtweg zerfressen. Hinter dem Bogen erstreckte sich ein weiter Hof, der unter einem dichten Bewuchs aus Ranken und Unkraut erstickte. In dem Hof befanden sich ein geborstener, mit schmutzigem Regenwasser angefüllter Springbrunnen, und ein niedriges, unter dichtem Efeu verstecktes Gebäude.
In ehrfürchtigem Staunen wanderte Arlen über den Platz. Unter dem Filz aus Vegetation bestand der Boden aus zerplatzten Steinen. Große, voll ausgewachsene Bäume sprossen daraus hervor, und die Wurzeln hatten riesige Steine umgekippt, denen nun eine dicke Moosschicht anhaftete. In dem naturbelassenen Fels entdeckte Arlen tief eingekerbte Kratzspuren von gigantischen Krallen.
Nirgendwo gibt es Siegel, fiel ihm plötzlich auf. Dieser Ort stammt noch aus einer Zeit vor der sogenannten Rückkehr. Wenn seine Vermutung stimmte, dann musste er seit über dreihundert Jahren verwaist sein.
Die zum Gebäude gehörende Tür war verrottet wie das Portal in der Umfriedung. Ein schmaler steinerner Eingang führte in einen großen Raum. Von den Wänden hing ein Gewirr aus Metallfäden; die Kunstwerke, die an ihnen befestigt gewesen waren, hatten sich längst in Staub aufgelöst. Ein schleimiger Belag auf dem Boden stellte den Rest eines einstmals dicken Teppichs dar. Alte Kratzer verunstalteten die Wände und das Mobiliar und legten Zeugnis von der Verwüstung ab. »Hallo?«, rief Arlen. »Ist hier jemand?«
Es kam keine Antwort.
Sein Gesicht fühlte sich heiß an, aber er fröstelte trotz der warmen Luft. Ihm war klar, dass er nicht mehr lange weitersuchen konnte, denn seine Kräfte schwanden rapide, aber er
hatte eindeutig Rauch gesehen, und Rauch bedeutete Leben. Der Gedanke gab ihm ein wenig Auftrieb, und als er einen bröckelnden Treppenaufgang erspähte, schleppte er sich in den ersten Stock hinauf.
In den größten Teil des Obergeschosses konnte das Sonnenlicht ungehindert eindringen. Das Dach war
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