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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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stand.
    Sie erschien im selben Augenblick, als der Verwalter, ein grobschlächtiger Kerl namens Gleb, die Knute in die Luft schwang. Er war im Begriff, einen Leibeigenen auszupeitschen, der den Grafen verärgert hatte, weil er einen Bullen ungeschickt kastriert hatte. Der unglückliche Mann war mit dem Gesicht nach unten und nacktem Oberkörper auf die Bank gefesselt, die senkrecht zur Mauer eines Nebengebäudes aufgestellt und daran befestigt war. Grischa befand sich zufällig ebenfalls im Hof, er war auf dem Weg zur Schmiede, in der Hand eine beschädigte Dechsel, die gelötet werden musste.
    Grischa war oft wütend auf den Grafen, weil er Gleb in der Ausübung seiner Aufgaben freie Hand ließ. Der Verwalter wohnte in einem kleinen, aber ordentlichen Holzhaus mit Vorgarten; manchmal sah Grischa, wie sich seine füllige Frau über ein Gemüsebeet beugte. Grischa indes teilte sich in dem zweigeschossigen Steinhaus im Bedienstetenquartier ein Zimmer mit drei Knechten aus dem Kuhstall, die einen penetranten Mistgeruch verbreiteten, der sich auf immer und ewig in ihre Haut eingegraben zu haben schien.
    Gleb ließ die Knute mit den drei Lederstreifen, an deren Enden je eine Eisenkugel saß, auf den nackten Rücken des Leibeigenen hinabsausen. Dieser stieß einen hohen, markerschütternden Schrei aus, und als er verstummte, hörten die Umstehenden einen weiteren Schrei. Alle drehten sich erschrocken zu der jungen Gräfin um, die mit schneeweißem Gesicht dastand und sich an die Kehle fasste.
    Aus unerfindlichen Gründen drehte sie sich nach der Kinderfrau um und nahm ihr das kleine Bündel aus den Armen, um es an die Brust zu drücken, als wäre das Baby als Nächstes an der Reihe, ausgepeitscht zu werden.
    » Aufhören! « , schrie sie Gleb an, der die Knute erneut über den Kopf hob, um zum zweiten Schlag anzusetzen. » Aufhören, habe ich gesagt! Binden Sie den Leibeigenen sofort los. «
    Gleb ließ die Knute sinken und starrte Antonina wütend an.
    » Nichts für ungut, Gräfin, aber ich muss mir von Ihnen keine Befehle erteilen lassen. Ihr Mann ist derjenige, dem ich gehorche und für den ich schon seit neun Jahren arbeite. Er hat sich noch nie über mich beschwert. Ich würde Ihnen daher vorschlagen, Gräfin, einen Bogen um die Auspeitschbank zu machen. «
    Antonina blickte sich hilfesuchend um. Als sie Grischa sah, öffnete sie den Mund.
    Doch dieser schüttelte kaum merklich den Kopf und war dankbar, dass sie anscheinend begriff, wie unklug es wäre, ihn in die Auseinandersetzung hineinzuziehen. » Gut « , sagte sie und richtete den Blick wieder auf Gleb. » Dann werde ich dem Grafen berichten, wie grob und ungezogen Sie zu mir waren, dessen können Sie sich sicher sein. « Sie hob das Kinn, drehte sich abrupt um und ging.
    Grischa sah das kleine, ernste Gesicht des Säuglings, der ihn über die Schulter der Gräfin hinweg anblickte.
    Der Graf war entzückt von seinem Sohn, dessen Geburt noch nicht lange zurücklag. Kurz nach der Niederkunft hatte er ein Fest für alle gegeben, die auf dem Gut arbeiteten. Es dauerte drei Tage und zwei Nächte, an denen jeweils ein Feuerwerk stattfand. Seine Freude machte ihn großzügig, und so bekam jeder der über tausend Leibeigenen – sowohl die Hausbediensteten als auch jene, die in den umliegenden Dörfern verstreut wohnten und seine Felder bestellten – eine Flasche Wodka und eine Handvoll Kopeken. Er trug seinen Sohn herum und zeigte ihn jedem, der ihm begegnete, wenngleich niemand das Baby anfassen durfte. Alle Hausleibeigenen waren sich einig, dass sie den Grafen noch nie so lächeln gesehen hatten.
    Michail Konstantinowitsch war erst zwei Monate alt, als Antonina zufällig in den kleinen Hof kam und Zeugin der Auspeitschung wurde. Sie berichtete umgehend ihrem Mann davon.
    » Das ist ein völlig natürlicher Vorgang « , sagte Konstantin. » Bestimmt hast du das in deiner Kindheit des Öfteren gesehen oder zumindest davon gehört. Wie sonst sollten wir unsere Kinder dazu bringen, gewissenhaft zu arbeiten? «
    » Sie sind keine Kinder « , sagte sie, während sie den Säugling auf dem Schoß hielt. Sie dachte an den Leibeigenen mit den purpurroten Striemen auf dem narbenbedeckten Rücken.
    Konstantin, der neben ihr auf dem Sofa saß, schüttelte den Kopf, während er seinen Sohn unter dem winzigen Kinn kraulte und ihn anlächelte. » Du weißt, was ich meine. « Er sah Antonina nicht an, sondern nahm Michails Händchen und betrachtete die winzigen perfekten

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