Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sie stehen und starrt ihren Mann an.
» Ist eine Lösegeldforderung eingetroffen? « , fragt Konstantin.
Antonina schüttelt den Kopf.
Konstantin sieht viel älter aus als gestern. Als er die Mütze abnimmt, tritt sein Schädel unter dem schweißgetränkten Haar im schwindenden Tageslicht deutlich hervor. Er ist einundsechzig und sie achtundzwanzig. Indem er sich mit seiner gesunden Hand am Sattel festhält, lässt er sich schwerfällig vom Pferderücken zu Boden gleiten. Ljoscha führt sein Pferd in den Stall.
» Was jetzt, Konstantin? « , fragt Antonina, aber er antwortet nicht gleich.
Nach einer Weile sieht er sie an. » Morgen machen wir uns wieder auf die Suche. Das ist alles, was wir tun können. Suchen, während wir auf eine Nachricht über unseren Sohn warten. «
Sie folgt ihm ins Haus, wo die Bediensteten die Lampen angezündet haben. Es riecht nach Rindfleisch, und der lange polierte Tisch im Esszimmer ist für zwei gedeckt.
Antonina geht am Esszimmer vorbei und die gewundene Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. Konstantin setzt sich an den Tisch und wartet, dass man ihm das Essen serviert, während er zuerst Antoninas Gedeck anstarrt, dann den Platz, an dem sein Sohn sitzen würde.
Antonina kann nicht schlafen, wieder hält sie sich mit einer Flasche Wodka wach. Als Lilja am nächsten Morgen wie immer ihr Zimmer betritt, um ihr beim Ankleiden zu helfen, zittert sie. Das dichte, helle Haar fällt Antonina bis zur Hüfte, selbst ihr Mann hat es noch nie völlig offen gesehen. Normalerweise braucht Lilja eine halbe Stunde, um es zu bürsten und nach der gängigen Mode mit den zierlichen Kämmen hochzustecken, die Antonina am liebsten mag. Was für wunderschönes Haar, denkt Lilja wie jedes Mal und lässt voller Bewunderung die schweren Strähnen zwischen den Fingern hindurchgleiten. Sie liebt es, ihrer Herrin das Haar zu waschen, während diese sich in der großen Porzellanbadewanne zurücklehnt. Manchmal, wenn Lilja allein in ihrer Kammer ist, versucht sie, ihr dunkles Haar genau so zu frisieren. Aber es ist zu fein, und die Kämme rutschen wieder heraus, die Frisur hält einfach nicht. Aber das macht nichts. Sie würde sich sowieso nie anders blicken lassen als mit ihrem gewohnten Zopfhaarkranz.
» Steck es schnell hoch, Lilja « , sagt Antonina zu ihrer Zofe. » Ich werde wieder mit den Männern losreiten. Lass uns keine Zeit verlieren. « Sie seufzt schwer, während die Bürste in langen, gleichmäßigen Strichen vom Haaransatz bis zu den Spitzen gleitet.
Lilja sieht Antonina im Spiegel an. » Alle Dienstboten beten für Michails glückliche Heimkehr « , sagt sie. » Mein Mann meint, dass die Kosaken keinem Kind etwas antun würden, ganz besonders nicht einem wie unserem Michail. «
Einen Moment herrscht Schweigen, ehe Antonina sagt: » Was weiß denn dein Soso von den Kosaken und ihren Sitten, Lilja? Was weiß er von meinem Kind? Was weiß er überhaupt von Kindern? «
Die Bürste hält inne, und Lilja holt tief Atem, als wollte sie ihren Mann in Schutz nehmen, sagt jedoch: » Dann wollen wir eben fest glauben, dass Gott sein Lamm beschützen wird. « Sie hebt die Bürste wieder an, aber Antonina streckt die Hand nach oben und legt sie auf Liljas Hand.
» Da vertraue ich doch lieber auf Männer wie Grischa und deinen Bruder Ljoscha. Wenn jemand Michail findet, dann sie. Sie werden ihn finden und ihn mir heil zurückbringen. Das sind diejenigen, auf die ich vertraue, Lilja. Nicht auf deinen ungehobelten Mann. Und meinen schwachen Gatten. Und auch nicht auf Gott. «
Lilja presst die Lippen zusammen. » Trotzdem solltest du nach dem Grafen sehen. Pawel meint, es geht ihm gar nicht gut. «
Antonina starrt auf die Perlmuttschale mit ihren Kämmen.
» Tosja? Hast du gehört, was ich gesagt habe? «
Wieder schaut Antonina Lilja in dem ovalen Spiegel an. Sie sind gleich alt, aber Lilja wirkt deutlich älter. Silberne Fäden durchziehen ihr schwarzes Haar, und ihre Augenfältchen sieht man auch, wenn sie nicht lacht.
» Beeil dich bitte, Lilja « , sagt Antonina.
Als Lilja fertig ist, geht Antonina den langen, breiten Flur entlang zum Zimmer ihres Mannes. Sie tritt ein und sieht Pawel neben Konstantins Bett stehen, ein feuchtes Tuch in der Hand. Ein weiteres feuchtes Tuch liegt auf Konstantins Stirn.
» Kostja? « , sagt sie. Mit der linken Hand hält er die verbundene Hand gegen die Brust. Neben vertrocknetem und frischem Blut ist auch ein gelblicher Ausfluss auf dem Verband zu sehen.
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