Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
beugt sich über ihn, aber sein fauliger Atem lässt sie sogleich wieder zurückweichen. Seine dunklen Augen sind ausdruckslos, doch gleichzeitig liegt ein merkwürdiger Glanz in ihnen. » Lass mich den Verband lösen, damit ich mir deine Hand ansehen kann « , sagt sie.
Konstantin schüttelt den Kopf.
» Dann erlaube mir, dass ich nach dem Arzt schicke. «
Konstantin setzt sich auf. » Nein, ich muss wieder aufbrechen. Hilf mir, Pawel. «
» Iss etwas, bevor du dich auf den Weg machst « , sagt Antonina. » Wenn du krank wirst, nützt das auch niemandem. «
Konstantin erwidert nichts, sondern schält sich mit Pawels Hilfe mühsam aus dem Bett. Sein Gesicht verzieht sich vor Schmerz.
Antonina geht hinaus und begibt sich nach unten in den Salon. Sie lässt nach Grischa rufen. Mit einer Verbeugung betritt er den Raum.
» Ich möchte, dass du mit Konstantin redest und ihn davon überzeugst, dass er einen Arzt braucht. Die Wunde muss gereinigt und genäht werden. Ich schicke inzwischen jemanden nach Pskow, um den Doktor zu holen. Aber du weißt ja, wie dickköpfig er ist. Wirst du mit ihm reden, Grischa? Sag ihm, in seinem Zustand kann er sich unmöglich im Sattel halten. Er muss gesund bleiben, bis … Er muss gesund sein, damit er dafür sorgen kann, dass wir unseren Sohn zurückbekommen. Auf dich hört er. «
» Ja, Gräfin « , erwidert Grischa. » Soll ich jetzt gleich zu ihm gehen? «
» Bitte. Er ist in seinem Zimmer. Ohne ihn … « Sie unterbricht sich, beginnt von Neuem. » Die Entführer werden ihre Forderungen an den Grafen richten. « Sie tritt vor Grischa hin und schaut zu ihm hinauf. Er ist größer als ihr Mann. » Warum haben sie noch keine Lösegeldforderung geschickt, Grischa? Warum? «
Grischa weicht ihrem Blick aus, sieht zum Kamin, in dem ein knisterndes Feuer brennt. » Bestimmt wird sie heute eintreffen, Gräfin. «
» Ja, meinst du? « , sagt Antonina und fasst ihn am Ärmel. » Glaubst du, dass sie heute kommen wird? «
» Diese Männer … sie wollen Sie auf die Folter spannen. Sie wollen, dass Sie möglichst verzweifelt sind. « Er blickt auf ihre Hand hinab, und sie zieht sie zurück. » Sie lassen sich Zeit, weil sie glauben, dass Sie dann ohne zu zögern auf ihre Forderungen eingehen werden. «
Antonina atmet langsam aus. » Ja, das macht Sinn. Und, Grischa? Sie werden Mischa doch nicht wehtun, nicht wahr? « Es ist keine Frage.
» Warum sollten sie dem Kind etwas zuleide tun, wenn sie es doch zurückgeben wollen, Gräfin? « , fragt Grischa mit sanfter Stimme. » Ihrem Sohn wird nichts geschehen. «
Antonina nickt. Sie ist Grischa dankbar für seine Zuversicht, dass Michail in Sicherheit ist und heute die Lösegeldforderung eintreffen wird. Und dennoch muss sie weinen; es ist, als würden erst die Kraft und Ruhe des Verwalters es ihr ermöglichen zu weinen. Sie wendet das Gesicht ab, weil sie sich ihrer Tränen schämt.
» Ich glaube, Sie sollten heute besser zu Hause bleiben « , sagt er mit sanfter Stimme. » Damit Sie da sind, wenn eine Nachricht der Entführer eintrifft. «
» Aber ich will helfen, ihn zu finden. « Sie dreht sich wieder zu ihm um und sieht ihn an. » Ich will … « Als Grischa den Kopf schüttelt, hält sie inne.
» Ich glaube, Gräfin, dass Sie hier nützlicher wären. Für den Fall, dass Ihr Sohn zurückgebracht wird oder eine Lösegeldforderung eintrifft. In beiden Fällen wäre es besser, Sie wären hier. «
» Vielleicht hast du recht « , sagt sie und fischt ein Taschentuch aus ihrem Ärmel, um sich die Wangen zu trocknen. Sie atmet tief ein, und wieder einmal empfindet Grischa Respekt für sie. Dafür, wie sie jeden neuen Tag mit Würde und Selbstbeherrschung bewältigt. Er weiß, wie sehr sie an ihrem Sohn hängt. Und kann sich ihre Verzweiflung vorstellen.
Wie Grischa vorausgesagt hat, trifft am Nachmittag eine Lösegeldforderung ein. Pawel muss sie aufwecken – sie ist auf dem Sofa im Musiksalon eingedöst.
Fjodor, der Stallmeister, will sie sprechen. Er wartet am Dienstboteneingang auf sie. Sie nimmt den Geruch seiner dungbehafteten Stiefel wahr und den Schweiß- und Fettgeruch, der seiner dicken Jacke und dem Hut entströmt, den er in der Hand hält. Als er eine tiefe Verbeugung macht und ihr ein Blatt Papier hinstreckt, bemerkt Antonina, dass ihm das linke Ohr fehlt. Was wohl mit seinem Ohr geschehen ist, fragt sie sich. Sie hat es einmal gewusst, aber es ist ihr entfallen.
Hastig ergreift sie das Blatt und faltet es mit zittrigen
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