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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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hätten, sei es doch egal, dass der Graf mitgekommen sei. Außerdem seien sie maskiert, niemand könne sie wiedererkennen. ›Gebt uns den Jungen, und die Sache ist vergessen‹, habe ich zu ihnen gesagt. ›Ihr wolltet das Geld, und jetzt habt ihr es. Und ihr gebt mir dafür den Jungen.‹ « Grischa hebt den Blick und sieht Antonina ins Gesicht. » Sie haben mein Pferd genommen. Ich bin ihnen nachgelaufen, aber zu Fuß hatte ich keine Chance. Also bin ich zum Grafen zurückgelaufen, habe ihn von seinem Pferd gezogen und bin ihnen nachgeritten, habe eine Zeit lang nach ihnen gesucht. Aber sie waren schon verschwunden, Gräfin, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu der Stelle zurückzukehren, wo der Graf lag, und mit ihm zurückzureiten. « In der Küche ist es still; nur ab und zu ist ein dumpfes Geräusch zu hören, wenn Raisa, die Köchin, den Brotteig beim Kneten auf die Arbeitsplatte klatscht. In einem großen Topf auf dem Herd blubbert etwas, der Deckel rattert leise.
    » Das heißt, wenn Konstantin nicht erschienen wäre, wäre Michail jetzt hier bei mir « , sagt Antonina langsam. Sie hebt ihr Glas und trinkt, ohne den Blick von Grischa abzuwenden.
    Grischa leert jetzt in einem Zug seinen Wodka. Mit der Zungenspitze berührt er die aufgeplatzte Lippe. » Das nehme ich an, Gräfin. Ja, das ist anzunehmen. « Er hält dem Blick seiner Herrin nicht länger stand. Ihr gepeinigter Gesichtsausdruck erinnert ihn an eine andere Frau.
    Die Geschehnisse dieser letzten Tage haben bei ihm alte Erinnerungen wachgerufen.
    Er schenkt sich abermals Wodka ein. Er trinkt, um den Schmerz seiner Verletzungen zu betäuben und das Bild seiner Mutter fortzuspülen, das sich vor sein geistiges Auge geschoben hat.

VIER
    G rischa wurde 1827 unter dem Namen Timofei Aleksandrowitsch Kasakow in Tschita geboren, einem Dorf in der Provinz Irkutsk im östlichen Sibirien. Die nächstgelegene Kleinstadt im Westen war die Burjaten-Enklave Werchneudinsk.
    Als Grischa – damals hieß er noch Timofei oder Tima, wie er genannt wurde – mit fünfzehn Tschita verließ, um nach Irkutsk aufzubrechen, ahnte er nicht, auf welch harte Probe ihn die achthundert Kilometer lange Reise stellen würde. Auf seinem Pferd Felja ritt er von zu Hause weg, mit nichts im Gepäck als einer bescheidenen Summe Rubel, zwei Satteltaschen mit Proviant, zwei dicken Yakwolldecken, ein paar wenigen Kleidungsstücken, drei Büchern, dem Kruzifix seines Vaters, der tibetischen Gebetsmühle seiner Mutter und der Holzflöte, die ihm sein Bruder Kolja geschenkt hatte. Weit schwerer wog die Last seiner Schuld.
    Es war Juni, und Tima hatte es auf den rauen, schlammigen Wegen nach Irkutsk mit schweren Gewitterstürmen zu tun, die gewaltsam über die Steppe hinwegfegten, und mit Mücken, die ihn fast in den Wahnsinn trieben, wenn er nachts eingerollt in seine Decken unter den Sternen schlief. Immer wieder musste er absitzen und Felja am Zügel durch einen Sumpf oder reißenden Strom führen. Als sein Proviant aufgebraucht war, kaufte er sich in den kleinen Weilern, durch die er kam, das Nötigste.
    Eines Nachmittags pöbelten ihn zwei Männer an, als er gerade Rast machte und Felja aus einem schmalen Fluss trinken ließ, und versuchten, ihm die Satteltaschen zu entreißen. Auch wenn er ihnen mühelos entkam, fühlte er sich doch zum ersten Mal in seinem Leben bedroht. Im nächsten Dorf kaufte er einen Dolch. Jeden Tag aufs Neue war er dankbar für sein Don-Pferd. Felja war wendig und verfügte über die große Ausdauer der russischen Pferde, die eigens dafür gezüchtet waren, dem rauen Klima und den harten Bedingungen ihrer Heimat zu trotzen.
    Als er schließlich fast vier Wochen, nachdem er in Tschita aufgebrochen war, in Irkutsk ankam, fand er sich auf einer der Hauptstraßen wieder und sah sich staunend um.
    Er wollte eigentlich nur eine Nacht hier verbringen, um sich mit Proviant zu versorgen, und dann weiterreiten. Er musste das gute Wetter ausnützen. Es war ungewiss, wie weit er käme, ehe der frühe Herbst in Sibirien einsetzte, denn dann würde er einen Ort suchen müssen, wo er Arbeit fände, um dort zu überwintern. Wenn er im Winter allein durch die einsamen Steppen und bewaldete Taiga Sibiriens ritt, um anschließend die Ausläufer des Urals zu überqueren und ins europäische Russland zu gelangen, konnte er leicht umkommen.
    So verlockend Irkutsk mit all den neuartigen Eindrücken und Geräuschen für einen Jungen wie ihn war, er wusste genau, dass er nicht

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