Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sie schläft weiter. Lilja bleibt reglos liegen und genießt es in vollen Zügen, Antoninas friedliches Gesicht zu betrachten.
Irgendwann rührt sich Antonina. Sie öffnet die Augen und keucht auf, als sie Liljas Gesicht vor sich sieht, so nah, dass es ihres fast berührt. Sie setzt sich rasch auf und rutscht von ihr weg.
» Sch, sch « , sagt Lilja und will Antoninas Wange streicheln. » Sch, mein Liebling, ich bin’s doch nur. Ich bin gekommen, um die ganze Nacht bei dir zu bleiben. Ich wache über dich, während du schläfst. «
Antonina blinzelt, schiebt sich verwirrt das Haar zurück. Im Schein der Lampe wirken ihre Augen geweitet, ihre Lippen zittern.
» Warum siehst du mich denn so erschrocken an? Sei nicht böse, meine Liebe. Alles ist gut. Sobald es dir besser geht, werde ich dir zeigen, dass ich dich viel besser lieben kann als er. « Lilja nimmt eine Strähne von Antoninas Haar und hält sie sich ans Gesicht. Sie schließt die Augen und atmet tief ein.
Antonina steht abrupt auf und hält sich am Kopfteil des Betts fest. » Verlass mein Zimmer, Lilja « , sagt sie leise, aber bestimmt. » Rede nicht auf diese Weise über Liebe mit mir. Hast du denn kein Schamgefühl? Hast du mich verstanden? « Sie deutet zur Tür. » Verlass sofort mein Bett und mein Zimmer. «
Während sie auf der anderen Seite aus dem Bett klettert, starrt Lilja sie an. Sie macht ein Gesicht, als hätte Antonina sie geschlagen.
» Und komme nicht wieder, ehe ich dich rufe. « Antoninas Blick fällt auf ihr Kleid und Liljas Gürtel, die am Fußende ihre Betts liegen; sie nimmt den Gürtel und löst den Schlüsselbund. » Du bist meine Dienerin « , sagt sie und schließt die Hand um die Schlüssel. » Vergiss das nie wieder. « Sie wirft den Gürtel auf den Boden.
Lilja weint, Tränen rinnen ihr über die Wangen. » Tosja « , sagt sie sanft. » Bitte. Sind wir nicht Freundinnen? Mehr als Freundinnen, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben? Behandle mich nicht so. Nachdem was Ljoscha und mir damals zugestoßen ist, du weißt schon, wie kannst du da … «
Antonina ist nicht gewillt, Lilja dieses alte Spiel spielen zu lassen. » Ich habe gesagt, du sollst gehen. Wir reden morgen bei Tage darüber. «
Lilja wischt sich mit der Hand über die Wangen. » Ja, morgen. Morgen reden wir. Es war ein langer, schwerer Tag für dich, Tosja. Du bist durcheinander, kannst nicht klar denken. « Sie sammelt ihren Gürtel und die Stiefel auf und geht in ihrem Unterkleid zur Tür. Dort bleibt sie stehen und sieht Antonina über die Schulter an. » Du bist dabei, einen Fehler zu machen « , sagt sie. » Bald wirst du es einsehen und mich um Vergebung anflehen. Und ich werde dir vergeben. Ich werde dir vergeben « , wiederholt sie, dann geht sie in ihren Strümpfen in den dunklen Flur hinaus.
Antonina folgt ihr zur Tür, schließt sie ab und lässt sich schwer atmend dagegen sinken. Gleich, was Grischa gesagt hat, sie muss Lilja unverzüglich entlassen. Diese Frau ist gefährlich, denkt sie. Sie ruft sich ins Gedächtnis, wie Lilja sie ansah, während sie ihr gegenüber auf dem Bett lag. Gefährlich, genau.
Früh am nächsten Morgen, als Antonina noch tief und fest in ihrem verschlossenen Zimmer schläft, erscheint Grischa im Gutshaus.
» Es ist Zeit, Lilja « , sagt er. Ihr Gesicht ist verquollen und fleckig, ihre Augenlider sind geschwollen und rot. » Heute bringst du mich zu Soso, und dann holen wir Michail Konstantinowitsch. Noch heute bringen wir ihn seiner Mutter zurück. «
Lilja blinzelt und mustert Grischa von Kopf bis Fuß. Dann sagt sie langsam: » Nein. Erst morgen. «
» Warum morgen? «
» Ich muss Soso erst eine Nachricht schicken, dass wir kommen. Er und die anderen werden gewisse … Dinge regeln müssen. « Sie unterbricht sich. » Es geht erst morgen. Und Ljoscha wird auch mitkommen. «
» Nein. Lass Ljoscha aus dem Spiel. Er weiß nichts und braucht auch nichts zu wissen. «
Lilja hat die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. » Ohne Ljoscha komme ich nicht mit. «
Grischa packt sie am Arm. » Gleich morgen früh. Und kein bisschen später. «
» Ja, ja, gleich morgen früh « , sagt sie. Als sie gegangen ist, horcht sie am Treppenabsatz, um sich zu vergewissern, dass Antonina noch in ihrem Zimmer ist. Dann huscht sie in Konstantins Arbeitszimmer und schließt leise die Tür hinter sich. Sie setzt sich an den breiten Schreibtisch, zieht eine Schublade hervor und nimmt eine Feder und einen
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