Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
am nächsten Tag mit Mischa kommen wird.
An diese Hoffnung klammert sie sich.
Früh am nächsten Morgen passt Lilja Grischa ab, und sobald er an der Hintertür erscheint, tauscht sie ihre Arbeitsstiefel gegen einfache Filzstiefel. Sie zieht einen schweren Umhang über ihren Schal und bindet das Kopftuch fester unter dem Kinn. » Zeig mir das Geld « , sagt sie.
» Ich habe es dabei, bring mich erst zu Soso. «
Sie gehen zum Stall. Dort sind Fjodor und Ljoscha.
Ljoscha hat die Anordnungen seiner Schwester befolgt. Er sieht zuerst sie an, dann Grischa. Seine Schwester strahlt in letzter Zeit etwas Beklemmendes aus, und er erfasst auf Anhieb die eisige Stimmung, die zwischen Lilja und Grischa herrscht. Er kann die Spannung, die in der Luft liegt, förmlich spüren, wie einen dünnen Draht, der im Wind vibriert.
» Fjodor « , ruft Grischa, » spann die Pferde vor die Troika. «
Auf dem Weg nach Borsik verlangt Lilja, dass Grischa ihr das Geld gibt. Er hat sowohl sein eigenes Geld aus dem Verkaufserlös des Landes mitgenommen als auch den Packen Rubel, der der Gräfin gehört – die Summe, die er Lew in Tuschinsk hätte übergeben sollen. Zuvor hat er den Stoß Rubelscheine geteilt; er nimmt nun einen kleinen Teil und reicht ihn Lilja. Sie sitzt allein auf der Rückbank der Troika; Ljoscha lenkt die Pferde. Sie öffnet den Umschlag und zählt das Geld. » Ist das alles? «
Grischa antwortet nicht. Er hofft, dass sie und Soso und dessen Kumpane nehmen, was sie bekommen können. Dies ist ihre letzte Chance: Und sie werden es nehmen, weil sie die Provinz Pskow verlassen wollen. Sie wollen den Jungen nicht länger verstecken müssen. Lieber das hier als gar nichts.
» Das kann nicht alles sein. Ich weiß, dass du ein Stück Land gehabt hast. «
Ljoscha dreht den Kopf zu Grischa. » Grischa? « , sagt er leise, aber dieser blickt sich zu Lilja um.
» Land zu besitzen ohne Leibeigene, die es bearbeiten, macht keinen Sinn « , sagt er. » Nimm das Geld, bevor ich es mir anders überlege und alles der Gräfin erzähle. «
» Wenn Soso nicht genug Geld bekommt, wird er uns nicht zu Mischa bringen. Ich weiß, dass du noch mehr Geld hast. Gib es mir « , sagt Lilja erneut.
» Warum sollte ich dir vertrauen? Hältst du mich wirklich für so blauäugig? Woher soll ich wissen, dass du nicht einfach das Geld nimmst und dich mit Soso aus dem Staub machst? Nein, Lilja. Ich werde den Rest so lange behalten, bis ich den Jungen habe. «
Wieder sieht Ljoscha Grischa von der Seite an, dann sagt er über die Schulter zu Lilja: » Schwester, was … «
Lilja starrt Grischa hasserfüllt an. » Du bist fürs Fahren zuständig « , entgegnet sie ihrem Bruder, und er und Grischa drehen sich wieder nach vorn und schauen geradeaus auf die Straße.
Ljoscha hält die vier Zügel in den Händen, jeweils einen für die beiden äußeren Pferde und zwei für das Mittelpferd, das in die Schere mit der duga gespannt ist. Die duga – ein Krummholzbügel, der sich über die Schere wölbt – ist mit blauen Rosetten und mit den traditionellen hundert Schellenglöckchen verziert. Die Glöckchen und die frische Winterluft erinnern Ljoscha an glücklichere Zeiten. Sein Gesicht ist leicht gerötet, doch weniger von der Kälte als von dem Wortwechsel zwischen seiner Schwester und Grischa.
Vierzig Minuten später kommen sie in Borsik an. Grischa und Ljoscha warten draußen, während Lilja in die niedrige Hütte hineingeht. Ein Schwein schnüffelt an der Außenwand. Der Esel beäugt es und schreit Iah, indem er die Lippen zurückzieht und seine gelben Zähne entblößt. Nach ein paar Minuten kommt Soso mit Lilja heraus. In seinem Bart hängen Essensreste, seine borstigen Haare stehen nach allen Seiten ab, als hätte er gerade noch geschlafen. Er sieht Grischa an. » Hast du das Geld? «
» Ja, hab ich. Beeil dich, bevor ich die Geduld verliere. «
Soso sieht Lilja an. » Hast du das Geld gesehen? «
» Ja « , erwidert sie, » hier ist schon mal ein Teil. « Sie öffnet den Umschlag, und Soso späht hinein. » Was ist mit Lew und Edik? «
» Die bekommen ihren Anteil später « , sagt er nach kurzem Zögern. Das lässt Lilja darauf schließen, dass er nicht die Absicht hat, das Geld mit irgendjemandem zu teilen. Die anderen beiden wissen nichts von diesem Lösegeldaustausch. Womöglich haben sie die Provinz schon verlassen, denkt sie. » Warum ist der dabei? « Soso und deutet mit einer Kinnbewegung zu Ljoscha.
» Weil ich ihn dabeihaben
Weitere Kostenlose Bücher