Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
hielte sie Ausschau nach jemandem.
» Pater Sawitsch « , ruft Soso in die Stille hinein, dann, als sich nichts rührt, noch lauter: » Slawa Sawitsch! «
Ein Priester mittleren Alters in einem fadenscheinigen Kasack und klobigen Stiefeln und einem Holzkreuz an einem Lederriemen um den Hals erscheint in der Tür der Kapelle. Sein langes graues Haar und sein Bart sind fettig und strähnig, seine Haut ist gelblich, als hätte er ein Leberleiden.
» Wir sind hier, um ihn zu holen « , sagt Soso, und der Priester sieht zuerst ihn, dann Grischa an. Sein Blick heftet sich auf die Pistole. » Hast du gehört? « , fragt Soso. » Wir wollen den Jungen holen. Bring ihn raus. «
Der Priester sieht Soso mit einem Stirnrunzeln an, als erkenne er ihn nicht wieder.
» Sawitsch « , sagt Soso barsch. » Bist du taub, oder was? Los, hol den Jungen. «
Schließlich tritt der Priester in die Kapelle zurück. Begleitet von dem Gekrächze der Krähen stehen sie da und warten. Es ist ein einsamer und heruntergekommener Ort, die Gebäude uralt und halb verfallen, überall blättert die weiße Tünche ab.
» Was ist das für ein Kloster? « , fragt Ljoscha leise.
Niemand antwortet ihm.
» Was ist das, Soso? « , fragt Ljoscha erneut.
» Es ist ein Kloster für arme Bauernjungen; sie werden hier zu Mönchen erzogen, damit sie später als Pfarrer in ihre Dörfer zurückgehen können. «
» Und deswegen müssen sie eingesperrt sein? « Ljoscha deutet zu den Hütten.
Während er den Satz beendet, erscheint der Priester wieder. Er schiebt einen Jungen vor sich her, den er grob an der Schulter gepackt hält.
NEUNUNDDREISSIG
A ls er den Jungen erblickt, schnürt sich Grischa die Kehle zu. Schnell verbirgt er die Pistole hinter dem Rücken, um ihn nicht zu erschrecken. Er weiß nicht mehr, ob er bis zu diesem Moment wirklich geglaubt hat, Michail Konstantinowitsch lebend wiederzusehen.
Es ist Michail, aber nicht das lebhafte Kind, an das er sich erinnert. Dieser Junge ist größer, seine Handgelenke ragen knochig aus den Ärmeln seiner schwarzen Kutte hervor, die Haut seiner Hände ist rot und rissig von der Kälte. Sein Kiefer ist kantig in dem dünnen Gesicht, sein Kinn spitz. Sein Haar ist zu kurzen goldenen Stoppeln gestutzt.
Sein Ausdruck … fremd und starr. Doch als Michail sie erblickt – Grischa und Ljoscha und Lilja –, verschwindet alles Steife aus seinen Zügen. Sein Gesicht nimmt einen weichen Ausdruck an und entspannt sich, und nun ist er wieder Mischa. Er will losrennen, zu ihnen, Rufe sind zu hören – er ruft sie, sie rufen nach ihm –, aber der Priester hält ihn weiterhin an der Schulter gepackt. Seine Fingernägel sind lang und schmutzig.
Wieder wird es still. Soso stellt sich vor den Priester und Mischa.
Michail reckt den Kopf, späht an der unförmigen Gestalt in dem Bärenfellmantel vorbei zu Grischa. Mischas Augen glitzern, aber er weint nicht. Er strafft die Schultern und hebt das Kinn, und trotz der zerschlissenen schwarzen Kutte, die nur von einem Seil um die Hüften zusammengehalten wird, und dem geschorenen Haar ist er jetzt wieder das Adelskind von einst. Grischa sieht, dass er nur Schuhe aus Baumrinde trägt; er hat Frostbeulen an den nackten Knöcheln. Grischa spürt einen Anflug von Stolz, als wäre es sein Junge. Zum ersten Mal wünscht er, er hätte einen Sohn, ein eigenes Kind. » Michail Konstantinowitsch « , sagt er.
» Ja, Grischa, ich bin’s « , sagt Michail mit sicherer Stimme, aber seine Worte sind herzerweichend, so als fürchtete der Junge, sie hätten inzwischen vergessen, wer er ist. Sein Atem geht schnell und stoßweise und bildet kleine weiße Wölkchen in der eisigen Luft.
Grischa wird bewusst, dass der Junge um Haltung ringt. Soso steht noch immer zwischen Michail und Grischa. Der Junge hat gelernt, sich zu fürchten, und er spürt, dass dies der Moment ist, in dem sich sein Schicksal entscheidet, und er darf nichts tun, um seine Chance zunichtezumachen. Er ist zwar erst zehn, aber er hat eine gute Kinderstube genossen. Er hat die Situation genau erfasst, denkt Grischa, nach allem, was er durchgemacht hat.
» Also « , sagt Soso und starrt Grischa an. » Du siehst also, dass der Junge lebt. Gib mir jetzt das Geld. «
» Wir sind gekommen, um dich zu holen, Michail Konstantinowitsch « , sagt Grischa, ohne Soso zu beachten. Er streckt eine Hand aus, während er die andere, in der er die Pistole hält, noch immer hinter dem Rücken verbirgt. » Komm. «
» Nicht, bevor
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