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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Treppe gegeben. Vielleicht hat Abraham den von Zwickow die Stufen hinuntergeworfen? Abraham ist ein stattlicher Mann, ich würde ihm das ohne weiteres zutrauen.«
    »Ich auch«, sagte Heyne. »Warum hatten die beiden überhaupt Streit?«
    »Genau wissen wir es nicht«, erwiderte Runde und seufzte. »Einer der Zeugen sagte, es sei irgendwann einmal um die Wahrnehmung des Gassenrechts gegangen.«
    Ehe die Diskussion fortgesetzt werden konnte, erschien Margarethe Kellner, die Hausherrin. »Verzeihung, wenn ich störe. Haben die Herren auch alles?«
    »Ja, meine Liebe, das haben wir«, sagte Lichtenberg.
    »Gut, dann geh ich jetzt wieder.«
    »Das tu nur.«
    Durch die Unterbrechung kam die Unterhaltung nur stockend wieder in Gang, und als sie erneut im Fluss war, wogten die Meinungen hin und her wie zuvor. Es zeigte sich, dass Heyne, von Schlözer und Schildenfeld gegen Abraham sprachen, Richter und Lichtenberg jedoch für ihn Partei ergriffen. Pütter, Runde und Kaestner wiederum nahmen eine neutrale Position ein. Sie wollten die Verhandlung abwarten.
    »Verhandlung?«, fragte Lichtenberg. »Muss das überhaupt sein? Heutzutage wird über alles und jedes verhandelt, und hinterher stellt man fest, dass die Hälfte sich von selbst erledigt hätte.«
    Diese Meinung allerdings vermochte keiner am Tisch zu teilen, und die Diskussion flammte abermals auf. Bis Runde schließlich sein Glas erhob und einen Toast auf die scheu in der Tür stehende Hausherrin ausbrachte. Margarethe errötete, stammelte einen Dank und zog sich rasch wieder zurück.
    »Tja, meine Herren«, sagte Runde daraufhin. »Wir sind in dieser leidigen Angelegenheit offenbar uneins. Nun, das war vielleicht nicht anders zu erwarten. Doch es hilft nichts. Frau und Kind rufen, sie wollen am Sonntagabend noch etwas von ihrem Familienoberhaupt haben. Jedenfalls ist es bei mir so, doch bei euch, meine Herren, dürfte es nicht viel anders sein. Ich hoffe, Ihr verübelt es mir nicht, mein lieber Lichtenberg, wenn ich unsere Zusammenkunft jetzt beende?«
    »Aber nein, Herr Kollege. Alles, was beginnt, muss einmal enden.«
    »Äh, wie?«
    Lichtenberg kicherte. »Welchen Sinn hätte sonst die Zeit?«
     
     
    Es war am Montagmorgen gegen halb zehn Uhr, als Abraham in Hasselbrincks schmalem Büroraum saß und zum soundsovielten Mal auf die schwarzen Zeiger der altersschwachen Tischuhr starrte. Die Zeit, nachdem er Gottwald tot aufgefunden hatte, verstrich, so schien ihm, langsamer als ein Tropfen einen Stein aushöhlte, wobei das gleichförmige Ticken der Uhr diesen Eindruck noch unterstrich. »Wie heißt es doch so schön?«, murmelte er. »Die Zeit ist eine lautlose Feile. Ja, das ist sie wahrhaftig, denn sie zerrt an meinen Nerven. Es scheint ihr Vergnügen zu bereiten, mich darüber im Ungwissen zu lassen, wie alles werden mag.«
    Bereits in den Vormittagsstunden des vergangenen Tages hatte er nach Professor Richter schicken lassen, wohl wissend, dass es sich um Sonntag und damit um einen arbeitsfreien Tag seines Doktorvaters handelte. Doch er hatte es als seine Pflicht angesehen, Richter raschestmöglich die neue Hiobsbotschaft zu übermitteln. Gleichzeitig hatte er die Gelegenheit nutzen wollen, noch einmal über den rätselhaften Tod seiner Patienten zu sprechen. Vielleicht hatte er sich auch etwas Zuspruch von dem erfahrenen Lehrer erhofft.
    Doch Richter war in der Kirche gewesen. Und am Nachmittag hatte es geheißen, er mache einen Besuch bei Kollegen, der Zeitpunkt seiner Rückkehr sei nicht vorauszusagen.
    Heute, am Beginn der Woche, hatte Abraham abermals nach Richter schicken lassen, mit der dringenden Bitte, er möge umgehend ins Hospital kommen.
    Doch statt seiner erschien Hasselbrinck.
    Abraham versuchte, seine Enttäuschung zu unterdrücken und fragte: »Nun, was hat Professor Richter gesagt? Wann wird er hier sein?«
    Hasselbrinck kratzte sich am Kopf. »Ich hab ihn leider wieder nicht erwischt, Herr Doktor. Er war gerade in einer Vorlesung, und da konnt ich natürlich nicht stören.«
    »Habt Ihr wenigstens eine Nachricht bei einem der Pedelle hinterlassen?«
    »Nein, Herr Doktor, daran hab ich nicht gedacht.«
    »Nun, gut. Ihr könnt es heute nach dem Mittagsmahl noch einmal versuchen.«
    »Jawoll, Herr Doktor.«
    Abraham verkniff sich einen Tadel, denn das hätte auch nichts mehr genützt. Ebenso wenig Sinn hätte es gemacht, Hasselbrinck noch einmal über die Nacht zum Sonntag zu befragen. Wohl ein halbes Dutzend Male hatte Abraham ihn bestürmt,

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