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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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»Vielleicht lässt du dir das Zahnstückchen als Ring einfassen.« Dann schickte er den verständnislos dreinblickenden Raufbold fort.
    Er versorgte noch zwei weitere Patienten an diesem Vormittag, und nachdem er das erledigt hatte, stieg er hinauf zu Pentzlin.
    Er legte dem Kranken die Hand auf die Stirn und spürte eine seltsame Verbundenheit. Vielleicht, weil Pentzlin als Einziger übrig geblieben war und weil er ihm deshalb besonders am Herzen lag. »Du bist nun der Letzte«, murmelte er. »Gewissermaßen der Beweis für meine Unfähigkeit als Arzt. Es ist mir nicht gelungen, dich zu heilen, und es ist mir ebenso wenig gelungen, den Mörder deiner beiden Kumpel zu ermitteln. Denn von Zwickow kann es nicht gewesen sein. Der war schon tot, bevor auch Gottwald sterben musste. Ich will alles daransetzen, dass du nicht ebenfalls sterben musst. Professor Lichtenberg sagt, der Elektrophor scheidet als Todesverursacher aus. Es muss also diese verdammte schemenhafte Gestalt sein, die mir nachts über den Weg gelaufen ist. Nur: Wer ist sie? Wer verbirgt sich hinter ihrem Schatten? Und vor allem: Steht es in meiner Macht, dich vor diesem Unhold zu schützen?«
    Abraham zog seine Hand zurück und setzte sich auf den Bettrand. Er ergriff Pentzlins Finger und betrachtete jeden einzelnen genau. Sie waren trocken und warm. Die Nägel, ehemals rußverschmutzt, waren weitergewachsen und mussten gekürzt werden. Abraham nahm sich vor, Hasselbrinck nachher darum zu bitten.
    Doch dann sagte er sich, dass der Krankenwärter weiß Gott genug zu tun hatte. Der musste dem Patienten nicht auch noch die Nägel schneiden. Das konnte er als Arzt ebenso gut selbst erledigen. Abraham stand auf und holte eine kleine Schere. Er nahm Pentzlins linke Hand in die seine, bog den kleinen Finger ab und – stutzte.
    Der Finger hatte gezuckt.
    Hatte er sich getäuscht?
    Abraham wiederholte das Abbiegen des kleinen Fingers und stellte mit angehaltenem Atem den gleichen Effekt fest. Der Finger zuckte, ganz ohne Elektrophor.
    Mühsam seine Erregung niederkämpfend, bog er nun jeden weiteren Finger ab, und – hurra! – bei jedem wiederholte sich das Zucken.
    Abraham musste an den
Rigor mortis
denken, die Leichenstarre und ihren Beginn. Konnte es sein, dass sich hier der umgekehrte Vorgang abspielte? So, wie er es schon einmal in der Theorie durchdacht hatte?
    Er sprang auf und holte ein Stück Seife. »Nimm es und halte es fest«, sagte er fast beschwörend zu Pentzlin. Und tatsächlich: Mit einer unendlich langsamen Bewegung schloss der Bergmann seine Hand zur Faust, das Seifenstück dabei umklammernd.
    In fliegender Hast holte Abraham den Elektrophor herbei, richtete das Gerät her und rieb hektisch mit dem Fell am unteren Teller. Beim Abnehmen des Oberteils sprang der Funke über, wie schon hundert Male zuvor, nur diesmal war es anders. Es war ganz anders: Pentzlins Arm mit der Hand und der darin befindlichen Seife hob sich für den Bruchteil eines Wimpernschlags an und senkte sich dann wieder auf die Bettdecke.
    »Heureka!«,
schrie Abraham und wiederholte den Versuch umgehend.
    Und wieder hob sich Pentzlins Arm. Und nicht nur dieser, sondern auch der andere. Gleichzeitig begannen Pentzlins Augenlider zu zucken.
    Abraham verschnaufte und setzte sich abermals zu seinem Patienten.
    »Weißt du«, sagte er zu ihm, »dass ich eben zum ersten Mal das Gefühl hatte, du könntest wieder ganz gesund werden? Ich würde zu gern die Versuche mit noch stärkeren Entladungen fortsetzen, aber ich habe das Gefühl, ich sollte es nicht übertreiben. Nur jetzt keinen Fehler machen! Obwohl: Dein sicherster Schutz vor dem schemenhaften Unhold wäre natürlich, du könntest aufstehen und einfach fortgehen. Aber so weit bist du noch nicht.
    Wer ist nur dieser vermaledeite Mörder? Er dreht seinen Opfern den Kopf zur Seite und weiß, dass sie daran sterben. Wieso weiß er das? Wer ist er? Und vor allem: Was passiert im Körper, dass dadurch der Tod eintritt?«
    Abraham stand auf und sprach weiter: »Ich werde dich jetzt allein lassen, Pentzlin. Du brauchst keine Angst zu haben. Am Tage passiert dir nichts. Ich werde zur Universitätsbibliothek gehen und dort versuchen, klüger zu werden, denn meine eigene bescheidene Literatur bringt mich nicht weiter. Selbst Professor Richter kann sich keinen Reim auf den Tod deiner Kumpel machen. Aber jetzt ist wieder Hoffnung. Warte auf mich. Ich bin bald zurück.«
    Er lief die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal

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