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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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nehmend. »Hasselbrinck!«
    »Herr Doktor? Potztausend, Ihr habt’s aber eilig.«
    »Ich muss zur Bibliothek. Bitte versucht, Professor Richter in seinem Privathaus zu erreichen. Dort müsste er jetzt sein. Er soll sich herbemühen und den Totenschein für Gottwald ausstellen. Entschuldigt mich bei ihm. Und dann schneidet Pentzlin die Nägel, aber vorsichtig, es könnte sein, dass er dabei mit den Fingern zittert …«
    »Herr Doktor, ich kann …«
    Was Hasselbrinck konnte oder nicht, erfuhr Abraham nicht mehr, zu schnell hatten ihn seine Beine aus dem Hospital getragen. Er stürmte die Geismarstraße nach Norden, erreichte den Kornmarkt gegenüber dem Rathaus, bog links dahinter ab, gelangte in die Pauliner Straße und von dort mit wenigen Schritten zu den Universitätsgebäuden. Atemlos verschnaufte er vor der Bibliothek, trat ein – und war augenblicklich von Ruhe umgeben.
    Abraham schätzte die Stille und die Abgeschiedenheit dieses Ortes, das geballte Wissen, das in den zahllosen Regalen schlummerte und auf den Forschenden wartete, die Muße, sich mit einem Werk, einem Folianten oder einer Dissertation an einen der bereitstehenden Tische zurückzuziehen und mit Bedacht darin zu blättern.
    Doch vor diesen Genuss hatten die Götter die Suche gesetzt. Wo sollte er anfangen?
    »Nanu, Abraham, Ihr hier? Ich glaube, Ihr habt diese Stätte lange nicht beehrt.« Wie aus dem Erdboden gewachsen war Professor Heyne hinter Abraham aufgetaucht und sah ihn mit einer Mischung aus Neugier und Distanziertheit an.
    »Ich habe sehr viel zu tun, Herr Professor.«
    »Das haben wir alle.« Heyne stand ins Gesicht geschrieben, dass er gern mehr über den Tod des von Zwickow erfahren hätte, sozusagen aus erster Hand, doch Abraham dachte nicht daran, das Thema anzuschneiden. »Ich möchte mich ein wenig in der Literatur über die Anatomie des menschlichen Körpers umsehen«, sagte er.
    »Nur zu.« Heyne klang ein wenig enttäuscht. »Ihr wisst ja, wo Ihr die Werke findet. Die
Fabrica
von Vesalius ist zurzeit aber ausgeliehen.«
    »Das macht nichts, Herr Professor.« Was Abraham suchte, stand ohnehin nicht in dem Werk, das vollständig
De humani corporis fabrica
hieß und bereits anno 1543 in Basel erschienen war. Es galt als Standardlehrbuch über den Aufbau des menschlichen Körpers, umfasste über zweihundert anatomische Zeichnungen und hatte schon Generationen von Studenten gute Dienste geleistet. Abraham kannte es in- und auswendig.
    »Alles andere ist wohl da.«
    »Vielen Dank, Herr Professor.«
    »Meine Bemühungen, die wesentlichen Werke in Philosophie, Jurisprudenz und Medizin gleich mehrfach bereitzuhalten, tragen in letzter Zeit zunehmend Früchte. Nur die
Fabrica
wird so oft verlangt, dass zurzeit alle Exemplare komplett verliehen sind.«
    »Natürlich, Herr Professor«, sagte Abraham und dachte: Du kannst noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag um den heißen Brei herumreden, ich werde dir nichts von den Vorfällen auf dem Fechtboden erzählen. Laut fügte er hinzu: »Wenn Ihr gestattet, sehe ich mich jetzt ein wenig um.«
    »Ja, äh, tut das. Und solltet Ihr ein Werk mit nach Hause nehmen wollen, tragt es bitte in die Liste mit dem Datum des heutigen Tages ein.«
    »Selbstverständlich, Herr Professor.«
    Endlich entfernte sich Heyne, und Abraham begann seine Suche. Da er nicht genau wusste, was er zu finden hoffte, stöberte er bis weit über die Mittagszeit in den zahllosen Regalen und Vitrinen herum, ärgerte sich ein ums andere Mal, wenn Bücher nicht nach den geltenden Prinzipien eingeordnet waren, hustete in der staubigen Luft, setzte sich hin mit einem Werk, blätterte es durch, stand wieder auf, stellte es wieder zurück, nahm das nächste aus dem Regal und so fort. Er glaubte schon nicht mehr an seinen Erfolg, als ihm endlich ein Werk in die Hände fiel, das den Titel trug:
De caputitis aspera et venae,
was auf Deutsch »Über die Luftröhre und die Adern des Kopfes« bedeutete. Es war im Jahr 1751 in Göttingen erschienen und schilderte profund die Wirkweisen und Zusammenhänge zwischen Muskeln, Sehnen, Bändern und Adern im oberen Bereich des Körpers. Abraham studierte es eingehend und mit immer größer werdender Erregung, bis er fast ein zweites Mal an diesem Tag
heureka!
gerufen hätte. Er hatte einen Abschnitt entdeckt, in dem die verschiedenen Operationslagen des Kopfes und ihre Auswirkungen auf den Patienten beschrieben wurden. Da hieß es:
    … Wird bei Operationen der Kopf längere Zeit über einen

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