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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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wann genau er das seltsame »Tock, Tock, Tock« gehört habe, aber der alte Krankenwärter hatte sich nicht mehr genau erinnern können. »Irgendwann zwischen Mitternacht und ein Uhr muss es gewesen sein, Herr Doktor«, hatte er immer wieder beteuert. »Ich war über der Arbeit eingeschlafen, bin dann hoch, wollte nachgucken im Patientensaal, weil das Geräusch ja von oben kam, und dann hat der Kerl mich fast umgerannt auf der Treppe. Nein, erkannt hab ich ihn nicht, aber wenn ich ihn erwischt hätte, hätt ich Hackfleisch aus ihm gemacht, das könnt Ihr mir glauben, Herr Doktor.«
    Immerhin hatte Hasselbrinck durch sein Eingreifen wenigstens Pentzlin das Leben gerettet.
    »Es ist gut«, sagte Abraham. »Geht an Eure Arbeit, Hasselbrinck. Und schafft Gottwald schon mal in die Remise.«
    »Jawoll, Herr Doktor.«
    »Und deckt ihn mit feuchten Tüchern ab, damit er kühl bleibt.«
    »Jawoll, Herr Doktor.«
    Er beschloss, sich seinen anderen Patienten zu widmen. An erster Stelle der jungen Mutter mit der
mastitis.
Auf Nachfrage versicherte sie ihm, es ginge ihr schon sehr viel besser, dank der hilfreichen Salbe und der kundigen Hände von Hasselbrincks Frau. Der Verband sitze sehr gut. Auch über das Essen sei nicht zu klagen.
    Abraham freute sich und kam zu den im Vorraum wartenden Patienten.
    Es waren am Montag stets mehr als an normalen Wochentagen, da der Sonntag dazwischenlag. An diesem Morgen war auch Traugott Moring erschienen, der den Arm jedoch nicht mehr in der Schlinge trug.
    »Hatte ich dir nicht gesagt, der Arm sei bis auf weiteres hochgebunden zu tragen?«, mahnte Abraham.
    »Habt Ihr, Herr Doktor. Aber seht selbst.« Moring nahm den Verband ab und wies den verletzten Finger vor.
    Abraham sah sich die Wunde genau an und staunte: »Du hast wirklich gutes Heilfleisch. Ein kleines Wunder. Wenn ich mich recht entsinne, hast du trotz der Verletzung weiter in der Sägemühle gearbeitet?«
    »Das nicht, Herr Doktor.«
    »Sehr vernünftig.«
    »Ich meine, ich konnte gar nicht. Das große Wasserrad von der Mühle ist kaputt, und die Reparatur dauert mindestens zehn Tage. So lange hab ich keine Arbeit …« Moring guckte unglücklich.
    Statt einer Antwort steckte Abraham den Kopf aus der Tür und rief den Gang hinunter: »Hasselbrinck!«
    »Jawoll, Herr Doktor?« Von irgendwoher eilte der Krankenwärter herbei.
    »Haben wir noch das Huhn, das neulich hier durch die Flure gelaufen ist?«
    »Jawoll, Herr Doktor. Das pickt hinten auf dem Hof.«
    »Fangt es ein und gebt es Moring.«
    Hasselbrinck verstand nicht. »Aber, Herr Doktor, von dem haben wir es doch?«
    »Stimmt, gebt es ihm trotzdem zurück.«
    »Jawoll, Herr Doktor.«
    Hasselbrinck verschwand, und Moring sagte: »So war das nicht gemeint, Herr Doktor.«
    Abraham klopfte ihm auf die Schulter. »So habe ich es aber verstanden. Nehmt das Huhn zurück. Ich weiß, wie leer der Magen ist, wenn man keine Arbeit hat.«
    Bevor Moring sich bedanken konnte, wandte Abraham sich den anderen Patienten zu, die an diesem Morgen einer Behandlung bedurften. Es handelte sich um einen Lotterieverkäufer, dem er kunstvoll eine quersitzende Gräte aus der Speiseröhre ziehen musste, einen Knecht, der mit dem Fuß auf die Zinken seiner Forke getreten war, einen Schreinergesellen, der recht kleinlaut wirkte und behauptete, er hätte sich den halben Schneidezahn bei der Arbeit ausgeschlagen. Abraham wusste es besser, denn die Prügeleien zwischen den Schreinern und den
Burschen
waren an diesem Morgen Stadtgespräch. Dem Herrn sei Dank!, hatte er insgeheim gedacht, das lenkt die Neugier der Leute von meinem eigenen Fall ab.
    Er besah sich den Zahnstummel und sagte zu dem Schreiner: »Tut mir leid, da kann ich nichts machen.«
    »Aber ich hab das abgebrochene Teil hier, Herr Doktor. Bin hinterher extra noch mal zu den
Drei Lilien
hin und hab’s gefunden.« Der Mann präsentierte stolz das Stückchen in seiner schwieligen Hand.
    »Ich dachte, es sei ein Unfall bei der Arbeit gewesen?«
    »Tja, hm …«
    Abraham beließ es dabei. Er war selbst in eine Rauferei verwickelt gewesen – sogar in eine mit tödlichem Ausgang – und fühlte sich nicht zum Richter berufen. »Wenn es eine Fingerkuppe wäre, die du dir versehentlich abgesägt hast, hätte man sie wieder annähen können, bei einem Zahnstückchen geht das leider nicht. Da würde der stärkste Leim nichts nützen.« Er musste an Professor Lichtenberg und dessen Goldring mit dem Zahn eines Rinderkalbs denken und sagte:

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