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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Winkel von 50–60° hinaus seitlich gedreht, so kann es zwar nicht zu einer Einschränkung der Atmung, wohl aber zur Abklemmung einer oder beider Wirbelarterien, zu einer Thrombose und zu Durchblutungsstörungen des Gehirns kommen … Einmal war bei einem derartigen Vorgehen sogar der Tod eingetreten …
    Immer wieder las Abraham diese Passage, besonders aber den letzten Satz:
Einmal war bei einem derartigen Vorgehen sogar der Tod eingetreten …
Das also war des Rätsels Lösung! Eine oder beide Wirbelarterien wurden durch die Verdrehung des Kopfes abgeklemmt, die Blutzufuhr zum Gehirn wurde dadurch mehr oder weniger unterbrochen, was den Tod zur Folge haben konnte.
    Es lag auf der Hand, dass der Mörder danach getrachtet hatte, den Kopf von Burck und Gottwald so stark zu verdrehen, dass mit Sicherheit beide Arterien, die hintere
Arteria vertebralis
und die vordere
Arteria carotis communis,
abgedrückt wurden, weil nur so der sichere Tod die Folge war. Und er, Abraham, hatte die ganze Zeit den gedanklichen Fehler gemacht, von einem Erstickungstod auszugehen! Wo die Lösung doch so nahelag! Sogar in der guten alten
Fabrica
hätte er sie jederzeit finden können. Professor Lichtenberg hatte recht: Es galt nur, anders, neu und nie gekannt zu denken.
    Aber welcher Mordbube war auf diese abgefeimte Tötungsmethode gekommen?
    Hatte er sein Wissen aus diesem Buch?
    Wie hieß überhaupt der Verfasser des Werkes?
    Abraham blätterte zurück zur Titelseite, denn auf den Namen des Autors hatte er am Anfang nicht geachtet. Es war ein gewisser Professor Arminius Pesus.
    Arminius Pesus – als Abraham diesen Namen las, traf es ihn wie ein Schlag.
    Wie ein Schlag mit dem Elektrophor.
     
     
    »Wie geht es Euch, mein Lieber?«, fragte Professor Richter, als Abraham im Hospiz eintraf. Er saß in Hasselbrincks Büroraum, vor sich eine Tasse Kaffee mit Zimt und Kardamom. »Ihr habt wahrhaftig im Moment keine Glückssträhne. Jetzt sind es schon zwei Patienten, die unter Eurer Leitung gestorben sind – von dem ungeklärten Todesfall auf dem Fechtboden der Pommeraner einmal ganz abgesehen.«
    »Jawohl, Herr Professor.« Abraham biss sich auf die Lippen. Das Hochgefühl, das er noch vor wenigen Minuten wegen seiner neuen Erkenntnisse gehabt hatte, schwand rapide.
    »Was die Sache mit von Zwickow angeht, so werde ich gleich noch einmal darauf zurückkommen. Scheußliche Geschichte, das Ganze.« Richter trank mit spitzen Lippen einen Schluck, denn das Gebräu war noch sehr heiß. »Ich will zunächst von Euch nur eines wissen: Wer hat den ersten Schlag getan?«
    »Von Zwickow, Herr Professor.«
    »Dann ist es gut. Dann habt Ihr Euch nur gewehrt und seid in meinen Augen unschuldig.« Er blickte zu Abraham auf. »Es wäre mir auch sehr gegen den Strich gegangen, als Euer Doktorvater und« – ein Lächeln huschte über seine markanten Züge – »als Euer zukünftiger Kollege etwas anderes erfahren zu müssen.«
    Abraham wollte antworten, wurde aber von Hasselbrinck unterbrochen. »Entschuldigt, Herr Professor, habt Ihr den Totenschein für den armen Gottwald schon ausgestellt?«
    »Das habe ich.« Richter gab dem Krankenwärter das Papier und wandte sich erneut an Abraham: »Die Ursache des
Exitus
von Gottwald dürfte dieselbe sein wie vormals die von Burck:
Insuffizienz,
also Herzversagen. Hasselbrinck, seid so gut und sorgt für die Überführung des Toten nach Bad Grund. Das Ganze ist natürlich etwas leidig, weil der Kutscher, der Burck fortbrachte, noch nicht zurück ist.«
    »Jawoll, Herr Professor.« Hasselbrinck verschwand.
    Richter schob die Kaffeetasse beiseite, nahm Abraham beim Arm und stieg mit ihm hinauf in den Patientensaal. Hier fuhr er fort: »Wir wollen nur hoffen, dass Pentzlin nicht auch noch das Zeitliche segnet, wenn Gottwald schon unterwegs ist. Versteht mich nicht falsch, Abraham, diese pragmatischen Gedanken haben natürlich nichts mit meiner Anteilnahme am Schicksal der armen Bergleute zu tun.«
    »Natürlich nicht, Herr Professor.« Abraham überlegte, ob er Richters Todesdiagnose widersprechen konnte, ohne unziemlich zu erscheinen, und sagte: »Die Diagnose Herzversagen ist selbstverständlich richtig, Herr Professor, und doch habe ich mir erlaubt, eine weitere Ursache in Erwägung zu ziehen. Sozusagen eine Ursache für die Ursache.«
    »Ihr macht mich neugierig.«
    »Durch die Drehung des Kopfes könnte die Blutversorgung des Hirns unterbrochen worden sein, was letztendlich zum Herzversagen und damit

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