Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
deutlich düsterer waren. Mit entsprechender Miene betrat er die schwere, eichengetäfelte Amtsstube des Prorektors, nachdem man ihn eine gebührende Zeit hatte warten lassen.
    Runde blickte von seinen akkurat auf dem Schreibtisch ausgerichteten Papieren auf und erhob sich. »Guten Tag, Abraham«, sagte er steif und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: »Unangenehme Gespräche führt man am besten im Stehen, und dies ist ein unangenehmes Gespräch.«
    »Jawohl, Euer Exzellenz.« Abraham, der bis eben noch vor Aufregung gebebt hatte, wurde plötzlich ganz ruhig. Vielleicht, weil er innerlich aufgegeben hatte. Seine Haltung, seine Würde, sein Stolz, alles das, was er sich in den letzten Jahren so mühsam bewahrt hatte, schien in diesem Augenblick zusammenzubrechen. Er fühlte sich wie gelähmt. Sollten sie ihn doch hängen, vierteilen, teeren oder federn, er war die ganze verlogene Gesellschaft satt. Er war es leid, gegen Hierarchien anzukämpfen, gegen den Dünkel, die Borniertheit, die ganze Ungerechtigkeit. Ein letztes Beispiel hatte Richter soeben geliefert. Der Herr Professor würde ernten, was er, Abraham, in mühevoller Arbeit gesät hatte. Die Genesung Pentzlins würde er sich wie einen Orden an die Brust heften und sich den Erfolg durch eine Publikation für alle Zeiten sichern. Sollte er doch. Ihm war alles egal. Und Alena hatte er auch verloren. Seine geliebte Alena und die Puppen …
    »Von dem Ergebnis dieses Gespräches wird es abhängen, ob von Seiten der Universität Anklage gegen Euch erhoben wird. Überlegt Euch also jedes Wort genau.«
    Abraham zog es vor, zu schweigen. Es schien ohnehin alles verloren.
    »Wir kennen uns nicht persönlich, Abraham, aber Euch dürfte bekannt sein, dass ich Professor der Jurisprudenz bin. Ich beschäftige mich also von Hause aus mit Recht und Gerechtigkeit, und ich nehme diese Berufung sehr ernst. Sie führt zu einer Einstellung, die der Grundstein für die Leitung eines so hochsensiblen Gebildes wie die Georgia Augusta ist. Das sollt Ihr wissen. Wenn ich zu der Überzeugung komme, dass Ihr unschuldig seid, könnt Ihr diesen Raum als freier Mann verlassen und Euer Studium wie geplant zu Ende führen, sollte ich jedoch zur gegenteiligen Auffassung gelangen, werdet Ihr Euch vor dem Gericht dieses Hauses zu verantworten haben – mit allen Konsequenzen.«
    Ja, wollte Abraham sagen, ja, das kenne ich. Schon einmal habe ich mich vor diesem Gericht zu verantworten gehabt, damit mir Gerechtigkeit widerfahre, aber die Gerechtigkeit wurde damals mit Füßen getreten. Ich wurde verurteilt, weil man mir nicht glaubte, und man glaubte mir nicht, weil ich ein Niemand war, ein Nichts gegen den großen Hermannus Tatzel, dem die Hand bei der Operation ausgerutscht war. Aber das durfte natürlich nicht wahr sein, das ging nicht, das war gegen die gottgewollte Ordnung. Und mich, mich warf man mit Schimpf und Schande von der Universität. Ich konnte von Glück sagen, dass ich nicht hinter Gittern landete …
    Das alles dachte Abraham in diesem Moment, aber er sagte kein einziges Wort.
    »Ich habe hier die Aussagen dreier Zeugen, die an Eides statt versichern, Ihr hättet den Streit begonnen und ohne erkennbaren Anlass auf Reinhardt von Zwickow eingeschlagen. Ihr hättet ihn ferner die Treppe hinuntergestoßen, mit der Absicht, ihn zu töten. Was habt Ihr dazu vorzubringen?«
    »Wer behauptet das?«
    »Wer das behauptet, tut nichts zur Sache. Die Herren Zeugen haben ihre Aussage zu Protokoll gegeben und die Erklärung eigenhändig unterschrieben. Der
Secrétaire
der Verwaltung, Tobias Fockele, war dabei persönlich anwesend.«
    »Die Aussagen sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben wurden.« Ein kleiner Funke Kampfesmut glomm in Abraham auf.
    »Wie darf ich das verstehen?«
    »Die drei Herren waren bei der Auseinandersetzung überhaupt nicht zugegen.«
    Auf Rundes Stirn entstand eine Falte. »Überlegt gut, was Ihr sagt, Abraham. Hier ist die Wahrheit gefragt – und nichts als die Wahrheit.«
    »Die Pommeraner auf dem Fechtboden waren allesamt betrunken. Um die Situation nicht von vornherein zu verschärfen, forderte ich von Zwickow auf, mir nach draußen zu folgen. Ich wollte dort etwas, äh, mit ihm klären.«
    Rundes scharfe Augen hatten den kleinen Moment der Unsicherheit bemerkt. »So? Was wolltet Ihr denn mit ihm klären?«
    Abraham suchte nach Worten. Er konnte dem Prorektor schlecht sagen, dass er von Zwickow des Mordes an Burck verdächtigt hatte. »Nun,

Weitere Kostenlose Bücher