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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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zum Tode führte.«
    Richter runzelte die Stirn. »Welche Drehung des Kopfes?«
    »Verzeiht, das vergaß ich zu erwähnen. Beide Patienten wurden mit seitlich abgeknicktem Kopf tot aufgefunden.« Für einen kurzen Moment dachte Abraham daran, über die schemenhafte Gestalt und ihre Untaten zu sprechen, entschied sich aber dagegen. Die Sache war noch nicht spruchreif.
    »Ein abgeknickter Kopf? Das kann Zufall sein. Es gibt keine Sterbestellung, die nicht irgendwann schon einmal vorgekommen wäre. Meist natürlich nach äußerlicher Einwirkung, aber immerhin.« Richter schürzte die Lippen. »Ihr meint, durch Abkanten der Wirbelarterien soll der Tod eingetreten sein? Das ist nicht auszuschließen. Im Endergebnis aber unwichtig. Trotzdem kein schlechter Gedanke. Ist der auf Eurem eigenen Mist gewachsen?«
    »Ich habe in die Bücher geschaut, Herr Professor.« Abraham vermied es, den Namen Arminius Pesus zu nennen, denn dieser Name bedeutete das Böse schlechthin.
    »Nun, gleichwohl habt Ihr einmal mehr ›Warum?‹ gefragt, und das ehrt Euch. Wir alten Ärzte tun das nicht immer, vielleicht, weil wir schon zu vieles gesehen und erlebt haben. Wie gesagt, ich habe Euch noch mitzu… Sackerment, habt Ihr das gesehen, Abraham?«
    Abraham hatte es gesehen. Pentzlin hatte klar und deutlich die linke Hand bewegt und dann zu ihnen herübergeblickt. Es hatte den Anschein, als habe er ihnen zugewinkt.
    Richter stand mit einem Satz neben dem Bett und ließ seinen Finger vor Pentzlins Augen wandern. Kein Zweifel, die Pupillen wanderten mit. »Ich glaube, er kommt zu sich!«, rief er. »Pentzlin, kannst du mich hören? Pentzlin?«
    Abraham trat dazu. »Er hat heute Vormittag schon vielversprechende Anzeichen gemacht«, sagte er.
    »Ja, ja! Seht nur, wie die Pupillen wandern. Und sie reagieren gleichermaßen auf unterschiedliches Licht!« Richter zog hektisch die Vorhänge der Fenster auf und zu.
Miosis
und
mydriasis
sind eindeutig festzustellen.«
    »Die Wirkung des Elektrophors …«, begann Abraham, doch er hielt inne, als er merkte, dass Richter ihm nicht zuhörte. Dieser war jetzt dabei, den linken Arm des Patienten anzuheben, und als der Arm in der erhobenen Position wie von selbst verharrte, stieß er Laute der Begeisterung aus. »Ich spüre es, Abraham, der
Sensus
des alten Arztes sagt es mir: Dieser Mann wird gleich wieder ganz bei sich sein. Welch ein Erfolg! Sagt, habt Ihr auch jeden Schritt der Krankheitsgeschichte im Journal festgehalten? Ich denke, dieser Fall ist eine Publikation wert. Seid so gut und holt mir die Aufzeichnungen.«
    »Jawohl, Herr Professor.« Abraham eilte hinaus und brachte das Verlangte. Er kam gerade noch rechtzeitig in den Saal zurück, um Pentzlins erstes gesprochenes Wort mitzuerleben. Es war die Antwort auf Richters Frage »Kannst du mich sehen, Pentzlin?«.
    »J-h-ha.« Pentzlins Lippen bewegten sich, als würge er etwas hervor.
    »Sag das noch einmal.«
    »J-ha.«
    Richter strahlte. »Er hat den Sinn meiner Frage verstanden. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern, bis er sich aufrichten kann. Nicht wahr, Pentzlin, du kannst dich doch aufrichten?«
    »Ja.«
    Abraham, den die Erregung ebenso gepackt hatte, fragte: »Soll ich den Elektrophor holen, Herr Professor? Die Wirkung der Maschine könnte den Vorgang beschleunigen.«
    »Nein, nicht nötig.« Richters Gesicht nahm wieder den würdigen Ausdruck des Professors an. »Ich hatte vorhin schon gesagt, dass ich noch einmal auf den Tod des von Zwickow zu sprechen kommen werde. Nun ist es so weit, denn es ist bald vier, und zu diesem Zeitpunkt sollt ihr Euch bei Professor Runde, dem Prorektor unserer so hervorragend beleumundeten Universität, einfinden. Steht ihm Rede und Antwort in dieser Angelegenheit und sorgt dafür, dass der Ruf der Georgia Augusta keinen Schaden nimmt. Ich wünsche Euch alles Gute.«
    Abraham wusste kaum, wie ihm geschah. Zu plötzlich hatte Richter das Thema gewechselt. Und doch war es nun so weit. Sein ganzes Schicksal würde von dem Gespräch mit Runde abhängen. »Ich würde gern noch bei Pentzlin bleiben«, murmelte er.
    »Das verstehe ich«, sagte Richter bestimmt. »Aber um den Patienten macht Euch nur keine Gedanken. Der ist bei mir in den besten Händen. Und nun müsst Ihr gehen. Viel Glück.«
    »Danke«, sagte Abraham. »Ich fürchte, das werde ich brauchen.«
     
     
    Zum zweiten Mal an diesem Tag legte Abraham die Strecke vom Hospital zu den Universitätsgebäuden zurück, nur dass seine Gedanken bei diesem Mal

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