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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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offenbart hatte, wusste er nie, wie er sich ihm – oder ihr – gegenüber verhalten sollte. Er beschloss, ihn weiter als Heinrich zu behandeln, auch wenn es ihm schwerfiel. Das war unverfänglicher. Er steuerte absichtlich nicht seine Stube an, weil dort noch sein Dielenlager aufgeschlagen war, sondern wählte den Patientensaal. »Vielleicht hast du schon gehört, dass auch Gottwald inzwischen tot ist«, sagte er, um irgendetwas zu sagen.
    Auf Heinrichs Gesicht fiel ein Schatten. »Nein, das ist mir neu. Und es tut mir sehr, sehr leid für dich.« Er wollte Abraham tröstend die Hand auf den Arm legen, aber dieser sagte schnell: »Pentzlin jedoch ist aus seinem todesähnlichen Zustand erwacht. Er spricht und isst.«
    Heinrich begann zu strahlen. »Oh, wirklich? Das ist ein wunderbarer Erfolg! Ich freue mich so für dich.«
    »Ja«, sagte Abraham und fügte unnötigerweise hinzu: »Jetzt schläft er gerade.«
    »Ich sehe es. Er sieht ganz normal aus.«
    Abraham rückte einen Stuhl heran. »Aber setz dich doch.«
    Heinrich nahm Platz und schaute ihn aus seinen großen grauen Augen an. »Und was ist mit dir?«
    »Was soll mit mir sein?«
    »Willst du dich nicht auch setzen?«
    »Doch, ja.« Abraham ließ sich auf Pentzlins Bett nieder.
    Eine Zeitlang schwiegen beide. Dann deutete Heinrich auf Abrahams Lippe. »Hast du das diesem üblen von Zwickow zu verdanken?«
    »Ja, das habe ich.«
    »Ich finde es nicht schade, dass er tot ist.«
    »So etwas darfst du nicht sagen.«
    »Warum nicht? Ich spreche nur aus, was viele denken. Sag, war es sehr schlimm? Ich meine, wie er dir zugesetzt hat?«
    Abraham wollte nicht über das Thema reden, deshalb fiel seine Antwort kurz aus. »Er ist tot, ich lebe.«
    »Und hast den Prorektor von deiner Unschuld überzeugt.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
    »Ja, so ist es wohl.«
    Wieder schwiegen beide. Dann sagte Heinrich: »Ich bin hier, damit du es mir wiedergibst.«
    »Was meinst du damit?«
    »Mein Medaillon.« Heinrich streckte die Hand aus.
    Abraham griff in die Rocktasche und nestelte das ovale Schmuckstück hervor.
    Heinrich öffnete das Medaillon und schaute sein Ebenbild an.
    Abraham sah mit Bestürzung, wie eine Träne unter seiner Wimper hervorquoll und langsam die Wange hinunterlief. »Henrietta, bitte«, sagte er heiser.
    »Ich bin Heinrich. Ich will Heinrich sein. Es ist besser, wenn ich Heinrich bin, auch wenn ich dich sehr liebe.« Jetzt begannen die Tränen zu fließen.
    »Henriett… Heinrich.« Abraham wollte seine Hand nehmen, aber er entzog sie ihm. »Lass das, du machst alles nur noch schlimmer.«
    »Ich wollte doch nur …«
    »Das wollte ich auch. Ich wollte einfach nur glücklich sein. Mit dir, nur mit dir. Ich dachte, eine Liebe muss nur groß genug sein, um alle Hindernisse überwinden zu können, aber ich habe mich geirrt.« Heinrich schlug die Hände vors Gesicht.
    Abraham kam sich vor wie der schändlichste Wicht auf Erden. Er suchte nach Worten, wollte Heinrich trösten, aber der Mund war ihm wie mit Brettern vernagelt.
    Allmählich beruhigte sich Heinrich. Er nahm die Hände von seinem Gesicht, und Abraham sah seine geröteten Augen. »Ich muss schrecklich aussehen.«
    »Du … du bist der hübscheste junge Mann, den ich kenne.«
    Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Heinrich wieder weinen müssen, aber er beherrschte sich. »Jedenfalls habe ich das Medaillon, und damit ist zwischen uns alles wieder so, wie es am Anfang war. Wir wollen Freunde bleiben, mehr nicht.«
    Abraham verspürte einen Stich.
    »Ich war bei Alena.«
    »Was?«
    »Es war vor zwei Tagen, am Samstagvormittag. Die Nachricht vom Tod dieses von Zwickow hatte sich wie ein Lauffeuer unter den
Burschen
herumgesprochen, und ich hatte große Angst um dich. Ich musste mit jemandem darüber sprechen, und da bin ich in die Güldenstraße gegangen. Alena ist sehr schön. Noch schöner, als ich befürchtet hatte. Allein ihre Augen, sie hat die schönsten schwarzen Augen, die ich jemals sah.«
    »Ja, das glaube ich.«
    »Ich bat sie, dich zu verstecken, falls man dich ins Gefängnis werfen wollte, und sie sagte, dafür käme, wenn überhaupt, nur der verwinkelte Keller in Frage, aber das müsse sie erst mit der Zimmerwirtin besprechen. Sie war genauso verzweifelt wie ich, das konnte ich in ihrem Gesicht lesen. Und genauso konnte ich darin lesen, dass sie dich noch immer liebt. Obwohl sie es abstritt. Ich habe ihr gesagt, dass ich dich aufgeben will, denn es gibt keinen

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