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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Haustür stand jemand, der Einlass begehrte. Abraham öffnete die Tür seiner Stube und rief in den Gang hinaus: »Hasselbrinck, bitte macht mal auf, da scheint jemand zu sein. Wahrscheinlich ein Patient!«
    Dann merkte er, dass der Krankenwärter noch nicht zurück war – von welchem Gang auch immer. Eine Verwünschung murmelnd, stieg er selbst nach unten und schaute nach. Vor ihm stand kein Patient, sondern ein recht hochnäsig dreinblickender junger Mann, der eine rote Livree trug. Die drei Löwen auf seiner Brust wiesen ihn als einen Diener des englischen Königshauses aus. »Ich komme im Auftrag von Professor Lichtenberg«, sagte der Mann in holprigem Deutsch, »und soll Euch das hier geben.« Er überreichte ein
Compliment,
das aus wenigen Zeilen bestand und folgenden Inhalt hatte:
    Lieber Freund und Lebensretter,
    je interessanter die Kunde, desto lauter pfeifen
    sie die Spatzen von den Dächern. Auch zu mir
    ist es gedrungen, dass Prof. Runde Euch gnädig
    in die Freiheit entlassen hat. Halleluja und will-
    kommen wieder in der Niederung des Alltags!
    Um es kurz zu sagen: Ich muss den Elektrophor
    von Euch zurückerbitten, wenigstens für einen
    Tag, da ich ihn für die morgige Frühlesung in
    meinem Hause benötige. Doch gebt ihn um des
    lieben Heilands willen nicht dem aufgeblasenen
    Höfling mit, der vor lauter Vornehmgetue keine
    zwei Schritte geradeaus gehen kann.
    Kommt lieber selbst.
    L.
    Abraham steckte den Zettel ein und sagte: »Richte dem Herrn Professor aus, ich würde mich umgehend auf den Weg machen und das Gewünschte bringen.« Er wartete die Reaktion des Arroganzlings nicht ab, sondern ging hinauf und holte das wertvolle Gerät aus dem Instrumentenschrank hervor. Bei dem Gedanken, noch einmal das Hospiz verlassen zu müssen, war ihm nicht wohl, aber es nützte nichts. Wenn der hilfreiche Professor um einen Gefallen bat, konnte man ihm diesen schlecht abschlagen.
    Abraham packte den Elektrophor in das eigens dafür angefertigte, mit rotem Samt ausgeschlagene Behältnis, zog seinen Rock über und verließ wenige Minuten später das Haus, um zum dritten Mal an diesem Tag die Geismarstraße nach Norden in Richtung Innenstadt zu gehen. Der Zufall wollte es, dass im gleichen Moment, als die Hospitaltür hinter ihm zufiel, Hasselbrinck den rückwärtigen Hof betrat, weil das Feuerholz hier gestapelt war und er ein paar Scheite mit ins Haus nehmen wollte. So verpassten sich beide.
    Abraham ging schnell, ohne nach links und rechts zu schauen, und erreichte alsbald die Rote Straße, in die er nach links abbog. Von hier war es nicht mehr weit bis zum Kornmarkt und zu Schmalens Laden, dem Haus, in dem Lichtenberg wohnte. Es schien, als hätte der Professor auf ihn gewartet, denn er öffnete selbst die Tür und sagte: »Ich hoffe, es
incommodirt
Euch nicht allzu sehr, dass ich Euch bemühen musste?«
    »Natürlich nicht, Herr Professor.«
    »Verzeiht, dass ich eine der Schranzen meiner Prinzen bemüht habe, Euch die Nachricht zu überbringen, aber bei mir liegt das Herz dem Kopf wenigstens um einen Schuh näher als bei den übrigen Menschen, und eine Paralysis der rechten Körperhälfte bereitete mir heute schon den ganzen Tag über argen Verdruss. Ah, da haben wir ja den elektrischen Apparat.«
    »Herr Professor, ich möchte gleich wieder …«
    »Die Paralysis glich übrigens einer Starre, so mächtig, als stünde ich unter elektromagnetischer Kraft, als würde ich unter Blitz und Donner verharren, dabei gleichsam wie ein Kaninchen auf die Schlange stierend.« Lichtenberg kicherte. »Und das, wo doch gerade mir die Elektrizität recht familiär ist. Wenn mich mein in die Jahre gekommenes
cerebrum
nicht täuscht, habe ich bereits in den siebziger Jahren den einen oder anderen Papierdrachen fliegen lassen, um die Phänomene der Gewitterelektrizität zu durchschauen …«
    »Herr Professor …«
    »Ich weiß, mein lieber Abraham, das war lange vor Eurer Göttinger Zeit. Und 1780 – oder war es 1781? – wollte ich den ersten Blitzableiter am Rathaus installieren, aber in diesem Fall waren sie sich alle einig, die Herren Bürgermeister, Stadtsyndikusse, Kämmerer, Senatoren und so weiter, sie wollten das Ding
partout
nicht auf ihrem Dach haben. Vielleicht, weil ich’s ›Furchtableiter‹ genannt hatte. Na, ich habe Newtons Erfindung dann an einem meiner Gartenhäuschen anbringen lassen. Und was soll ich Euch sagen, niemals seitdem hat mir der Blitz eine Pflanze verkohlt, geschweige denn die Laune

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