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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Abraham hatte jetzt Mühe, den gedanklichen Sprüngen des kleinen Gelehrten zu folgen. Er schielte zu der Uhr im Raum und stellte fest, dass es schon nach halb acht war. Draußen war es zu dieser Jahreszeit noch taghell, doch er wollte spätestens bei Einbruch der Dämmerung wieder im Hospiz sein.
    »Trinken wir auf die Mäßigung, Prosit!«
    »Prosit, Herr Professor.«
    Lichtenberg grinste vergnügt. »Nach diesen Präliminarien müsst Ihr mir erzählen, was meine Influenzmaschine bewirkt hat. Sie hat doch etwas bewirkt, nicht wahr? Ihr habt es mir erzählt. Ihr wart mit Euren Patienten auf einem guten Wege.«
    Abraham berichtete mit kurzen Worten, dass Burck und Gottwald trotz all seiner Bemühungen verstorben waren – den wahren Grund dafür nannte er nicht –, und schilderte dann die Gesundung Pentzlins, die fast einer Auferstehung gleichgekommen sei. »Wenn nicht alles täuscht, wird er noch ein langes Leben vor sich haben«, schloss er.
    »Ja, ja, ein langes Leben.« Lichtenberg wurde nachdenklich. »Je mehr Zipperlein einer hat, desto mehr schneidet’s ihm vom Leben ab. Nur wie viel, fragt sich. Auch hier fehlt’s an der rechten Formel.«
    Abraham fühlte sich bemüßigt, auf seine Ratschläge im Umgang mit den Arzneien zu verweisen. Er wiederholte noch einmal, dass weniger häufig mehr sei und dass ein Spaziergang an frischer Luft so manches Medikament überflüssig machen könne. Auch bei dem verehrten Herrn Professor.
    Doch Lichtenberg schien ihm nicht zugehört zu haben, er kam vielmehr ins Philosophieren. »Es gibt zwei Wege, das Leben zu verlängern, mein lieber Abraham«, sagte er. »Erstens, dass man die beiden Punkte ›geboren‹ und ›gestorben‹ weiter auseinanderbringt und also den Weg länger macht. Diesen Weg länger zu machen, hat man so viele Maschinen und Dinge erfunden, dass man, wenn man sie allein sähe, unmöglich glauben könnte, dass sie dazu dienen könnten, einen Weg länger zu machen. Vermögt Ihr, mir zu folgen?«
    Abraham versuchte einen Scherz. »Noch geht es. Ihr wollt damit sagen, dass vielerlei Unnützes und Überflüssiges erfunden wurde.«
    »Richtig erkannt.« Lichtenberg fuhr fort: »Auch wenn einige unter den Ärzten mit Hilfe der Maschinen sehr viel geleistet haben. Der Elektrophor und Eure Kunst mögen dafür ein Beispiel sein. Nun, die andere Art, das Leben zu verlängern, ist, dass man langsamer geht und die beiden Punkte stehen lässt, wo Gott will. Die Philosophen haben nun gefunden, dass es am besten ist, dass man im Zickzack geht.«
    »Ihr meint, man nimmt sich mehr Zeit, um von einem Punkt zum anderen zu kommen?«
    »
Recte!
Indem man über Gräben springt, hin und her, und ruhig einmal einen Purzelbaum wagt.«
    »Meint Ihr denn, von Glück kann nur sagen, wer ein langes Leben hat?«
    Lichtenberg zuckte mit den Schultern. »Ein langes Glück verliert schon bloß durch seine Dauer. Und dennoch ist Glück erstrebenswert. Es liegt in vielen kleinen Dingen diesseits und jenseits des Grabens. Und es liegt am Grunde des Weinglases. Prosit.«
    »Prosit, Herr Professor.«
    Lichtenberg trank aus und beugte sich verschwörerisch grinsend zu Abraham hinüber. »Euch steht ins Gesicht geschrieben, was Ihr denkt, mein Lieber. Ihr denkt, wann kann ich endlich gehen, wann lässt der Professor mich aus seinen Klauen? Die Antwort ist: jetzt.«
    »Herr Professor …«
    Lichtenberg winkte ab. »Verzeiht, wenn ich Euch missbraucht habe, um ein Schwätzchen zu halten, aber meine gute Margarethe hat mir für heute Abend
Schnaps-Conradi-
Verbot erteilt, und ich pflege, wenn auch vielleicht für manchen überraschend, ihr in den meisten Fällen zu gehorchen.«
    »Ich verstehe. Es ist mir« – Abraham suchte nach Worten – »ein wenig peinlich, dass man mir mein Innerstes so angesehen hat.«
    »Das braucht es nicht.« Lichtenberg stand auf. »Wir sind alle nur Menschen, für manche allerdings scheint diese Bezeichnung ein wenig zu hoch gegriffen zu sein. Nun ja, ich will nicht schon wieder ins Schwätzen kommen. Ich wünsche Euch, mein lieber Abraham, einen angenehmen Heimweg und noch einen schönen Abend. Und grüßt mir Eure Gemahlin.«
    »Ja, danke«, sagte Abraham. »Ich hoffe, dass er schön wird.«
    Aber sicher war er keineswegs.
     
     
    Pentzlin schlief tief und fest, als Abraham eine Viertelstunde später nach ihm schaute. Sein Gesichtsausdruck war anders als in den Tagen zuvor, viel friedlicher, was daran lag, dass er die Augen geschlossen hielt. Abraham prüfte den

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