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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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verhagelt.«
    »Herr Professor, verzeiht …«
    »Oh, wie unbedacht von mir! Ich vergaß, der Elektrophor hat sein Gewicht, und Ihr haltet ihn die ganze Zeit in der Hand. Seid bitte so gut und tragt mir das Ding in die Stube, dahin, wo der große ovale Tisch steht. Dann ist es morgen früh gleich an Ort und Stelle, wenn die Lesung beginnt.«
    Wohl oder übel gehorchte Abraham. Wer A sagt, muss auch B sagen, dachte er. Wer dem Professor den Elektrophor nach Hause bringt, kann nicht an der Tür wieder umkehren. Er tat, wie befohlen, und packte das Gerät aus.
    Lichtenberg stand daneben, klein und verkrümmt und blinzelte ihn aus klugen Äuglein an. »In Frankreich gärt es«, sagte er übergangslos, »ob es Wein oder Essig werden wird, ist ungewiss. Doch Ihr, mein lieber Abraham, habt schon, wofür die Franzosen auf die Barrikaden gehen wollen – die Freiheit! Noch gestern haben wir Professoren an diesem Tisch gesessen, Runde mitten unter uns, und über Euch gesprochen. Die Meinungen über Euch und Eure Unschuld waren sehr geteilt, wenn ich es gelinde ausdrücken soll, doch umso besser, dass Ihr heute
›Liberté!‹
rufen könnt.«
    »Gewiss, Herr Professor. Ich möchte …«
    »… sicher mit mir ein Gläschen Wein trinken. Natürlich! Eure Freiheit muss begossen werden. Schade, dass ich keine Wetten auf den Ausgang des Gesprächs bei Runde abgeschlossen habe. Ich wäre heute Abend ein reicher Mann. Aber auch so reicht’s noch zum Saft der Reben. Da kommt übrigens meine bessere Hälfte, Frau Margarethe Kellner, von der ich Euch schon beim
Schnaps-Conradi
erzählte. Stell die Karaffe und die Gläser nur auf den Tisch, meine Liebe, wir schenken uns selbst ein.«
    Margarethe nickte Abraham freundlich zu und verschwand ohne viele Worte.
    »Prosit, Abraham. Trinken wir auf alles, was frei, unabhängig und selbstbestimmt ist. Ich freue mich für Euch.«
    »Danke, Herr Professor.« Abraham trank widerstrebend einen Schluck.
    »Nun setzt Euch doch. Ich brauche den Elektrophor zwar morgen für meine Lesung, das heißt aber nicht, dass ich mich auf dieselbe vorbereiten müsste. Ich habe Zeit. Die Grundgeheimnisse der Elektrizität sind ein wenig gelüftet, seit Galvani seine Froschschenkel tanzen ließ. Er verstand nicht genau, warum sie tanzten, aber ich denke, ein Stromfluss sorgte dafür. Strom, so meine These, ist überall in der Natur anzutreffen, und die Kraft, die im geriebenen Bernstein zieht, ist dieselbe, die in den Wolken donnert.«
    »Jawohl, Herr Professor.« Obwohl Abraham nicht bleiben wollte, begannen die Worte des kleinen Gelehrten ihn wie üblich zu fesseln.
    »Andererseits gibt es im Bereich der Elektrizität viele Erkenntnisse, die einander scheinbar widersprechen. Für sich allein ergeben sie keinen Sinn, sie dienen lediglich dazu, irgendwann von der wahren Erkenntnis abgelöst zu werden. Ich halte mich nicht für einen Gesalbten der Weisheit, aber ich sage immer, es muss eine Formel geben, die allumgreifend ist – und zwar auf Erden genauso wie im Planetenraum. Da können die Herren Astronomen noch so viel prüfen und spähen und messen und rechnen.«
    »Sicher, Herr Professor.« Abraham unternahm einen zaghaften Versuch, den Redefluss seines Gastgebers zu unterbrechen. »Der Wein ist wirklich sehr gut, ich möchte nicht unhöflich sein, aber …«
    »Wie könntet Ihr unhöflich sein, wenn Ihr die Qualität meines Weines lobt?« Lichtenberg kicherte. »Wusstet Ihr, dass Johannes Kepler die Arbeit des Dänen Tycho Brahe fortführte, indem er dessen riesige Mengen an Zahlen und Messungen auswertete?«
    »Nein, das wusste ich nicht.«
    »Kepler war Philosoph, Mathematiker, Theologe, Astronom, Astrologe und Optiker in einem. Im Übrigen muss er auch eine musische Ader gehabt haben, wie ich immer zu behaupten pflege. Er glaubte doch tatsächlich, jeder Planet habe eigene Töne und besäße sogar eine eigene Tonleiter.«
    »Auch das wusste ich nicht.«
    »Wir alle wissen viel zu wenig, mein Lieber, und je mehr Wissen wir anhäufen, desto unvollkommener erscheint uns, was wir in unser kleines Hirn hineingestopft haben. Der Mensch ist ein fleischgewordener Irrtum, sage ich Euch. Er bildet sich ein, Dinge vorhersehen zu können, doch dem ist nicht so. Es regnet allemal, wenn’s Jahrmarkt ist oder wenn wir Wäsche trocknen wollen. Was wir suchen, ist immer in der letzten Tasche, in die wir die Hand stecken. Was uns fehlt, ist Bescheidenheit. Bescheidenheit und Mäßigung.«
    »Jawohl, Herr Professor.«

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