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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Sorgen,
    ich komme wieder morgen!«
    »Liebste, ich …«, hob Abraham abermals an, wurde jedoch wie zuvor unterbrochen. »Wem gehört der Karren mit der Abdeckplane?«, ertönte eine andere Stimme von der Tür. Ein streng aussehender Soldat der Stadtwache blickte fragend in die Runde.
    »Äh, mir!« Abraham erhob sich zögernd. Aller Augen ruhten auf ihm.
    »Der Name?«
    »Abraham, Julius Abraham, ich …«
    »Schon gut. Der Wagen ist unverzüglich beiseitezuschaffen, er behindert den Verkehr. Anderenfalls lasse ich ihn
confisciren.
«
    »Jawohl.«
    Die Stadtwache grüßte militärisch knapp und verschwand. Die Tür fiel krachend ins Schloss.
    Abraham setzte sich, um sofort danach wieder aufzustehen. »Der Karren muss fort, besser jetzt als gleich.«
    »Und wohin?«, fragte Alena.
    »Da wir keine Bleibe haben und den Wagen wegfahren müssen, wird es am besten sein, die Stadt zu verlassen. Wir können vor den Toren im Freien nächtigen. Morgen früh gehen wir dann zum Logis-
Commissionair
Ulrich, der uns ein Quartier zuweisen wird.«
    »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Alena hatte so laut gesprochen, dass einige Gäste sich zu ihr umdrehten. Leiser fuhr sie fort: »Ich habe die letzten Wochen jede Nacht in einem windschiefen, altersschwachen Armeezelt verbracht, und ich habe mich nicht beklagt, ich habe die letzten Wochen auf der nackten Erde geschlafen, und ich habe mich nicht beklagt, ich habe die letzten Wochen auf jede Bequemlichkeit verzichtet, und ich habe mich nicht beklagt, aber jetzt ist Schluss. Ich will endlich wieder einmal in einem richtigen Bett schlafen.«
    »Das verstehe ich ja, aber …«
    »Kein Aber, Julius Abraham! Weißt du eigentlich, was für ein schrecklicher Ort diese Burg Plesse ist?«
    »Ein schrecklicher Ort? Ich dachte, der Platz am Fuß des Turms hätte dir gefallen?«
    »Nur so lange, bis ich die Geschichte mit dem armen Kind hörte.«
    »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, Liebste.«
    »Als damals die Burg erbaut wurde, so heißt es, glaubten die Leute, sie könne niemals erobert werden, wenn in ihre Fundamente ein Kind eingemauert würde. Lange dauerte es, bis sich eine Mutter fand, die bereit war, sich von ihrem Kind zu trennen. Es war eine Frau aus Reiershausen, die sich derart versündigte. Sie verkaufte ihr taubstummes Jüngstes für den Judaslohn von zwanzig Talern. Als das Kind eingemauert werden sollte und alle Welt und auch die Mutter zugegen waren, öffnete es auf einmal den Mund und sagte: ›Mama‹. Doch es nützte ihm nichts mehr. Mit dem Vermauern des letzten Steins wurde es zur ewigen Finsternis verdammt. Seitdem ruft es jede Nacht um zwölf Uhr nach seiner Mutter.«
    »Aber Liebste.« Abraham griff beschwichtigend nach Alenas Hand. Er fand, dass die Kinder-Spukgeschichte nichts zu tun hatte mit der mangelnden Bequemlichkeit der letzten Wochen, aber es schien ihm in diesem Augenblick besser, nicht darauf hinzuweisen. »Das ist ja ein Greuelmärchen, das du da gehört hast. Wer hat dir denn so etwas erzählt?«
    »Listig war es.«
    Abraham lachte etwas gequält. »Und diesen Unsinn hast du natürlich geglaubt. Hast du am Ende auch das Kind um Mitternacht rufen hören?«
    »Nein, habe ich nicht. Aber die Geschichte hat nicht gerade zu meinem Wohlbefinden beigetragen, wie du dir denken kannst. Jedenfalls schlafe ich keine einzige Nacht mehr im Freien.« Alenas Augen drohten. »Unternimm etwas!«
    »Gut, gut, ich weiß, wenn du so guckst, habe ich verloren.« Abraham stand auf und ging zum Schanktisch, hinter dem der Wirt geschäftig hantierte. »Habt Ihr ein Zimmer für die Nacht, Herr Wirt?«
    Der schmerbäuchige Mann blickte auf. »Hab ich. Aber es ist nur klein und geht nach hinten raus. Die Remise für Euren Karren kostet extra.« Wie alle Wirte hatte er gute Ohren und Abrahams Problem sehr wohl mitbekommen.
    »Wie viel?«
    Der Wirt taxierte Abraham. Er versuchte, ihn einzuordnen, denn in Göttingen gab es zweierlei Preise – die einen galten für die Bürger, die von den Studenten verächtlich »Philister« genannt wurden, die anderen galten für die Studenten, die von den Bürgern einheitlich
Burschen
genannt wurden. Letztere zahlten im Zweifelsfall mehr. Da Abraham nicht wie ein Student aussah, fiel die Antwort etwas günstiger aus: »Gebt mir vier Sechs-Groschen-Stücke oder einen Mariengulden.«
    »So viel?«
    »Das ist nicht viel.« Der Wirt wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ihr könnt gern im
Drei Lilien
nachfragen oder im
Braunen

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