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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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und kannst es ihm leicht zurückzahlen.«
    »Das kommt nicht in Frage. So gut kenne ich ihn nun auch wieder nicht.«
    Alena überlegte angestrengt. »Und was ist mit der jährlichen Preisfrage?«
    »Du meinst den Wettbewerb, den Georg  III . ins Leben gerufen hat? Der findet auch in diesem Semester wieder statt.«
    »Dann nimm doch daran teil, letztes Jahr hat es dieser Heinrich Friedrich – wie heißt er noch gleich? – doch auch geschafft.«
    »Der Mann heißt Heinrich Friedrich Link und kommt aus Hildesheim. Er schrieb eine Abhandlung mit dem Titel
Über die Erzeugung des Blasensteins.
Er schrieb sie sehr gut und sehr ausführlich, und ich könnte dir noch sehr viel mehr über sie erzählen, aber es würde uns nichts nützen.«
    »Warum nicht?« Alena legte die Strümpfe beiseite.
    »So eine Arbeit braucht Zeit, und was nützen uns die schönen Taler, wenn beim Schreiben das gesamte Semester draufgeht? Nichts. Ganz davon abgesehen, müsste ich den Wettbewerb erst einmal gewinnen, und das ist, weiß Gott, nicht leicht.«
    »Wir haben also gar keine Chance?«
    »Es sieht so aus.« Abrahams Stimme klang düster.
    Alena schüttelte den Kopf und stand energisch auf. »Nein, Abraham, es gibt eine Chance.«
    »Diesmal nicht.«
    »Doch.« Sie trat hinter ihn und kraulte sanft seine eisgrauen Haare.
    »Doch? Wie meinst du das?«
    »Es gibt immer irgendeinen Weg, man muss nur daran glauben. Das hast du gestern selbst gesagt.«
    »Ach, Liebste, ach, Liebste.«
     
     
    Der Montagmorgen war ein grauer Tag, der ziemlich genau zu Abrahams Stimmung passte. Beim Frühstück in der Güldenstraße hatte die Witwe aus dem Fenster geschaut und gesagt: »Meiner Treu, in der Nacht sind
Schloßen
und
Ackerleinen
vom Himmel gefallen, überall Pfützen, überall Matsch, wem macht das schon Ergötzlichkeit!« Als sie keine Antwort bekam, hatte sie hinzugefügt: »Und so mag’s weitergehen bis
Mamertus, Pankratius
und
Servatius.
«
    »Liebste, ich werde heute mit Professor Richter sprechen«, hatte Abraham beim Abschied gesagt und sie geküsst. Und Alena hatte nur geantwortet: »Denk an unseren Satz.«
    Nun lenkte Abraham seine Schritte über den großen Universitätshof, ließ rechter Hand die Professorenhäuser liegen und steuerte auf das Collegiengebäude zu. Er erklomm die Stufen bis zur hohen Tür und trat ein. Es war die erste Vorlesung des neuen Semesters, die er besuchen wollte, weshalb er noch kein Billett besaß, das ihn berechtigte, einen Platz in Richters Saal zu besetzen. Im Wintersemester hatte er Platz Nummer 15 gehabt, es war ein guter Platz gewesen. Abraham blickte sich um. Weit und breit war keine Hilfskraft zu sehen, bei der er das Billett hätte kaufen können. Er blickte zur Uhr. Donner und Doria! Die Vorlesungen hatten schon begonnen. Deshalb war alles so grabesstill.
    Unschlüssig trat er von einem Bein aufs andere, dann schlich er auf leisen Sohlen zu Richters Saal, öffnete behutsam die Tür und trat ein. Drinnen herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Vorn an einer großen Tafel stand Richter und dozierte mit klarer Stimme. Es ging an diesem Morgen um die Schmerzen, besonders um die durch Wunden verursachten, ein Thema, das Abraham schon geläufig war, aber dennoch einer Auffrischung bedurfte. Richter, ein gutaussehender Mittvierziger, mit wachen, schnellen Augen, markanter Nase und männlichem Mund, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sprach, seiner Angewohnheit entsprechend, gegen die Decke: »… drittens sind die Ursachen der Schmerzen alle fremden Dinge, die in den Wunden hängen und sie irritieren, insonderheit, wenn Nerven nahe dabei liegen, viertens, wenn scharfe Sachen sich in den Wunden befinden, zum Exempel, wenn Vitriol oder andere scharfe corrosivische Medikamente zum Blutstillen gebraucht wurden, fünftens …«
    Abraham ließ seinen Blick über die Studenten schweifen, die gebeugt in ihren Bänken hockten und eifrig mitschrieben. Es mochten um die zwanzig sein, eine Zahl, die weit über dem Durchschnitt lag, denn Richter war beliebt. Er drückte sich einfach und verständlich aus und hatte seine Themen häufig gedruckt vorliegen, so dass jemand, der nicht alles mitbekommen hatte, das Fehlende noch einmal schwarz auf weiß nachlesen konnte. Ein Professor wie Richter, der mehr
Applausum
als ein anderer hatte, nahm über die Billetts auch mehr Kolleggelder ein. Ein Umstand, der nicht selten zu Zank und Streit unter den gelehrten Herren führte.
    Abrahams Blick verharrte, denn er war bei seinem

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