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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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alten Platz angekommen, und dieser Platz war leer. Doch daneben saß jemand, der ihm lebhaft Zeichen machte. Es war Heinrich! Und er winkte ihn heran.
    Abraham winkte vorsichtig zurück, dann beobachtete er wieder Richter, und während dieser konzentriert weitersprach, »… dreizehntens, wenn wegen Vollblütigkeit des Verwundeten das Blut in der Wunde stockt, große Geschwülste und Entzündungen verursacht, sonderlich bei Schusswunden, die oft nicht viel bluten …«, eilte er, sich klein und unauffällig machend, zu seinem angestammten Platz.
    »Fein, dass du da bist«, wisperte Heinrich. »Ich hatte schon geglaubt, du kämst nicht mehr.«
    Abraham legte Heft und Schreibzeug auf das schmale Pult der Bank und flüsterte zurück: »Wie kommt es, dass wir zusammensitzen?«
    »Ganz einfach, ich habe zwei Billetts gekauft, meins« – Heinrich zeigte ein kleines Papier, auf dem
No. 
16
stand – »und deins gleich mit. Hier, nimm.«
    Abraham nahm sein Billett widerstrebend an. »Ich gebe dir das Geld nachher zurück.«
    »Es eilt nicht, ich …« Heinrich unterbrach sich, denn Richter hatte den Blick von der Decke gewandt und schaute zu ihnen herüber.
    »… wenn der Schmerz von einer großen Entzündung herkommt, und zwar von einer Wunde, bei der nicht viel Blut verlorengegangen und der Verletzte blutreich ist, so dass man dadurch Wundfieber und Wundbrand zu befürchten hat, kann man den Patienten zur Ader lassen, was bei allen großen Entzündungen fast das beste und vornehmste Mittel ist …«
    Richter legte den Kopf wieder in den Nacken, um fortzufahren, und Heinrich wollte weitersprechen, aber Abraham hob den Finger an die Lippen. Er wollte der Vorlesung folgen, denn dazu war er schließlich gekommen.
    Eine Stunde später kam Richter zum Ende seiner Ausführungen. Freundlich, wie er war, wies er auf einen Stoß Papiere und sagte: »Meine Herren, das eben Vorgetragene findet Ihr in seinen wichtigsten Zügen hier noch einmal wiedergegeben. Wer also nicht alles mitschreiben konnte, mag sich dieser Hilfe bedienen.«
    Die Studenten klopften anerkennend auf die Pulte und standen auf. Abraham erhob sich ebenfalls und kramte in seinen Taschen, um Heinrich die verauslagte Münze zurückzuzahlen, obwohl dieser nochmals betonte, es eile damit nicht.
    »Doch, doch, nimm nur. Ich hasse es, Schulden zu haben.«
    Heinrich lächelte. »Gestern beim
Schnaps-Conradi
fand ich es sehr nett, das müssen wir unbedingt bald wiederholen.«
    Abraham dachte daran, dass beim zweiten Treffen er derjenige sein musste, der den anderen freihielt, und sagte: »Ich werde mich sicher für deine Einladung revanchieren, nur heute habe ich wenig Zeit.«
    »Schade.«
    »Das Studium besteht nicht nur aus Biertrinken, sondern vor allem aus angestrengtem Lernen. Daran solltest du dich von vornherein gewöhnen.«
    Heinrich nickte und blickte betreten drein, wodurch er Abraham fast schon wieder leidtat.
    Abraham schielte zu Richter, der wie nach jeder Vorlesung von einer Traube aus Studenten umgeben war, hauptsächlich von solchen, die sich lieb Kind machen wollten, indem sie überflüssige Fragen stellten, sich anbiederten oder Schmeicheleien absonderten. »Ich muss mit dem Professor etwas Wichtiges besprechen. Vielen Dank noch mal, dass du das Billett für mich gekauft hast.«
    »Sehen wir uns morgen bei der Vorlesung?«
    Abraham zögerte. »Ich habe viel Arbeit mit meiner Dissertation.«
    »Ich verstehe.« Ein Anflug von Enttäuschung breitete sich auf Heinrichs Gesicht aus.
    Abraham sah, dass Richters Bewunderer ihn für einen Moment freigegeben hatten, klopfte Heinrich ermunternd auf die Schulter und eilte zu seinem Doktorvater.
    »Was gibt es, Abraham?« Richter schien bester Laune.
    »Kann ich Euch unter vier Augen sprechen?«
    »Nanu, ist es so ernst?«
    »Ich fürchte, ja.«
    »Gut, gehen wir auf den Hof, da können wir uns ein wenig die Beine vertreten.«
    Als sie draußen waren, sagte Abraham: »Verzeiht, Herr Professor, dass ich mit der Tür ins Haus fallen muss, aber mir ist kein gescheiter Auftakt für dieses Gespräch eingefallen.«
    »Ihr macht es spannend, Abraham. Schießt los.« Richters kluge Augen zeigten Abraham, dass er dessen volle Aufmerksamkeit hatte.
    »Herr Professor, ich fürchte, ich werde mein Studium nicht zu Ende führen können.«
    Richter blieb stehen und faltete in gewohnter Manier die Hände hinter dem Rücken. »Sagt nur nicht, es läge wieder am leidigen Geld.«
    »Doch, genau daran liegt es.«
    Richter

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