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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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schürzte die Lippen. »Wenn ich mich recht entsinne, habt Ihr aus diesem Grund schon einmal das Studium unterbrochen?«
    »Das stimmt.«
    »Danach habt Ihr es – zu meiner Freude, wie ich betonen möchte – wieder aufgenommen. Gibt es denn niemanden, der Euch unter die Arme greifen kann? Kein Verwandter, kein Freund, kein Gönner? Es wäre ein Jammer, wenn Ihr die Flinte ins Korn werfen würdet, Ihr seid einer der besten Studenten, die ich jemals hatte.«
    »Vielen Dank, Herr Professor, aber leider habe ich keinen, der mich unterstützt.«
    »Ich könnte ein Wort beim akademischen Armenfiskus einlegen.«
    »Das möchte ich auf keinen Fall.«
    »Das habe ich mir gedacht. Ihr seid ein gestandener Mann, älter als ich, und habt Euren Stolz.« Richter legte Abraham die Hand auf den Arm. »Deshalb weiß ich auch, dass Ihr zu stolz wärt, ein Stipendium anzunehmen, aber dazu würde ich Euch schon überreden, und wenn ich Euch dafür prügeln müsste.« Er hielt inne und senkte seine Stimme. »Wenn da nicht etwas anderes wäre: Es gibt Personen, glaubhafte Personen, die Euch als Puppenspieler in irgendwelchen Dörfern haben auftreten sehen, eine Tätigkeit, die sich für einen Göttinger Studenten selbstverständlich nicht ziemt. Planck, der Prorektor im vergangenen Semester, zitierte mich deshalb zu sich, was Ihr selbstverständlich nicht wisst, denn es gelang mir, die Geschichte unter den Teppich zu kehren, so dass sie weiter keine Kreise zog. Professor Runde, der Planck am Anfang dieses Jahres ablöste, war ebenfalls dabei, das heißt, auch er weiß Bescheid über Eure Stippvisiten im Göttinger Umland. Unmöglich deshalb, dass er ein Stipendium für Euch befürwortet. Mensch, Abraham, Ihr macht es mir schwer!«
    »Es tut mir leid, Herr Professor.«
    »Ich will Euch nicht verlieren, versteht Ihr?«
    Abraham zuckte hilflos mit den Schultern.
    »Macht mir bloß keine Faxen und geht mit irgendwelchen Puppen wieder auf Tour!«
    »Das verspreche ich.« Abraham dachte an den fehlgeschlagenen Auftritt vom Vortag.
    Richter beruhigte sich etwas. »Jedenfalls hört Ihr nicht so Knall und Fall mit Eurem Studium auf. Ihr kommt morgen früh wieder in meine Vorlesung.«
    »Jawohl, Herr Professor.«
    »Und nicht wieder zu spät, wenn ich bitten darf.«
     
     
    Doktor Jakob August Tietz, ein noch junger Arzt, der vor wenigen Jahren promoviert worden war, schätzte sich glücklich, eine Anstellung als betreuender Mediziner für die Bergleute der Grube in Bad Grund gefunden zu haben. Er war von kleinem Wuchs, hatte schon einen erheblichen Bauch, kurzsichtige Augen und schüttere Haare, weshalb er stets Perücke trug. Er liebte Literatur und Musik, spielte die Geige mehr schlecht als recht und war den Freuden der Tafel nicht abhold.
    Ein besonders guter Arzt war er nicht. Doch für die Untersuchungen, die es an den Kumpeln vorzunehmen galt, reichte es. Er behandelte ihre Quetschungen, ihre Abschürfungen, ihre Einblutungen. Er machte ihnen Kompressen und Verbände, schiente gebrochene Arme, renkte Schultergelenke ein oder setzte sein Hörrohr auf Brust und Rücken, um das Geräusch in den Lungen seiner Anbefohlenen zu kontrollieren. Gegen das Pfeifen und Rasseln verschrieb er ihnen schleimlösenden Lungentee, den er eigenhändig aus Eibisch, Huflattich und Zinnkraut zusammenstellte. Er wusste, dass dieses
Infusum
allenfalls half, die Beschwerden zu lindern – mehr nicht.
    Während der Zeit, die er in seinem Ordinationsraum verbrachte, las er gern ein gutes Werk, sofern der Krankheitszustand seiner Patienten es erlaubte.
    Heute war Montag, und auch heute hätte er sich gern in Goethes
Leiden des jungen Werther
vertieft, aber es war kein normaler Montag, sondern ein ganz und gar ungewöhnlicher, denn am gestrigen Sonntag hatte Flessner, der Steiger, ihm drei Männer bringen lassen, die nicht mehr am Leben zu sein schienen. Zwar konnten sie sehen, zwar konnten sie atmen, zwar konnten sie trinken und essen, aber sonst waren sie tot.
    Tietz hatte seine ganze Kunst aufgeboten, um sie zum Sprechen zu bringen, schon deshalb, damit sie Auskunft darüber geben konnten, ob und wo sie Schmerzen hatten, aber der Erfolg war ihm versagt geblieben. Er hatte sie angesprochen, angerufen, angeschrien, er hatte sie zu erschrecken versucht, hatte sie geschüttelt, hatte ihnen Magnete an den Kopf gehalten und mancherlei mehr, doch alles war vergebens gewesen.
    Schließlich hatte er das getan, was ihm am meisten wider die Natur ging: Er hatte einen Arzt

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