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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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aus Bad Grund hinzugezogen, aber auch dieser war – wie er mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung registrierte – nicht in der Lage, das Mysterium zu lösen.
    Nachdem der Arzt unverrichteter Dinge gegangen war, hatte Tietz, eigentlich nur der guten Ordnung halber, noch mal mittels einer Lampe ihren gesamten Körper abgeleuchtet und dabei festgestellt, dass ihre Pupillen sich bei Lichteinfall verkleinerten und bei Fortnahme des Lichts wieder vergrößerten. Allerdings wanderten sie nicht, egal, in welche Richtung er Gegenstände vor ihnen bewegte. Doch immerhin eine weitere Reaktion! Und damit vielleicht ein Fünkchen Hoffnung?
    Mit diesen Gedanken war Tietz gestern Abend zu Bett gegangen, nachdem er dafür gesorgt hatte, dass die Verunglückten eine leichte Mahlzeit und einen stärkenden Tee erhalten hatten. Er hatte die Hoffnung gehegt, die Säfte der Natur würden nächtens wieder in Einklang kommen, zur
Eukrasie
zurückfinden und die Männer zum Bewusstsein erwecken.
    Nun stand er enttäuscht an ihren Betten. Nichts hatte sich geändert. Er beugte sich über die Kranken und blickte ihnen direkt in die Augen. Nein, sie erkannten ihn nicht. Sie erkannten überhaupt nichts. Er hätte eine Fliege an der Decke sein können, eine Spinne, eine Schnake, ein Gecko, es wäre für sie kein Unterschied gewesen. Es half nichts. Das Problem – sein Problem! – war nach wie vor da. Tietz schielte nach Goethes Werk, das auf seinem Schreibtisch lag und darauf wartete, weitergelesen zu werden.
    Wieso war das Ganze eigentlich sein Problem? Er war doch nur ein kleiner Grubenarzt, ein Knochenflicker, ein Wundenversorger und keinesfalls ein hochgelehrter Professor?
    Und dann hatte Tietz eine Erleuchtung. Es war ganz einfach: Er würde sein Problem auf die Schultern eines anderen abwälzen, und dazu bedurfte es nur eines Briefes. Er setzte sich hin, spitzte die Feder und beschrieb mit wohlgesetzten Worten sein Anliegen.
    Als er fertig war, fühlte er sich wesentlich besser. Er streute Sand auf seine Zeilen, versiegelte das Schreiben und ließ nach Flessner rufen.
    Wenig später waren die Kranken fort, und Tietz saß an seinem Schreibtisch. »Mein lieber junger Werther«, murmelte er, »jetzt habe ich wieder Zeit für dich.«

[home]
    Von dannen …
    A m Dienstagmorgen erschien Abraham zeitig auf dem Universitätsgelände, denn er wollte auf keinen Fall wieder unpünktlich sein.
    Wie immer unterschied er sich in seinem Äußeren von den anderen Studenten, denn er war nicht nur über dreißig Jahre älter als sie, er weigerte sich auch konsequent, die Kleidung der
Burschen
zu tragen – weder das Kamelott im Sommer noch den holländischen Flaus im Winter noch die Uniform irgendeiner Landsmannschaft. Er trug vielmehr seinen schwarzen Gehrock aus Nankinett, auf den er seit Jahren schwor, nicht zuletzt, weil das Tuch aus der chinesischen Stadt Nanking besonders fest und haltbar war. Der Rock wies mehrere große Taschen auf, außen wie innen, in denen sich nicht nur vielerlei Zauber-Utensilien für seine Vorstellungen unterbringen ließen, sondern auch alles an Heften, Notizen und Stiften, was er für die Vorlesungen bei Professor Richter brauchte. Bevor er das Collegiengebäude betrat, überprüfte er noch einmal seine Ausrüstung auf Vollständigkeit. Ja, nichts fehlte, er war vorbereitet.
    Ein Gefühl der Beruhigung durchströmte ihn, auch wenn es heute wohl das letzte Mal war, dass er zu Richter ging. Plötzlich erklang hinter ihm eine Stimme: »Guten Morgen, Julius!«
    Abraham fuhr herum und erkannte den strahlenden Heinrich.
    »Ein schöner Tag zum Studieren, findest du nicht auch?«
    Das fand Abraham nun nicht gerade, aber er wollte Heinrich nicht die Laune verderben und sagte deshalb: »Wie man’s nimmt. Manch einer kann bei Sonnenschein besser lernen, manch einer bei Regen. Der Mensch ist verschieden.«
    Heinrich wirkte weiterhin munter. »Ich fand den Tag gestern sehr aufregend, alles war noch so neu für mich! Aber beim Unterrichtsstoff hatte ich keinerlei Schwierigkeiten. Ich denke, ich werde gut mithalten können.«
    Abraham betrachtete Heinrich, der an diesem Morgen ein sandfarbenes Kamelott trug, und stellte fest, dass die Jacke sehr gut zu seinem braunen Haar passte. Überhaupt wirkte Heinrich sehr gepflegt, was nicht zuletzt daran liegen mochte, dass ihm noch kein einziges Barthaar wuchs. »Es wird nicht immer so einfach sein wie gestern, Heinrich.«
    »Das weiß ich, aber ich fürchte mich nicht. Ich

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