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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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habe schon mehrere medizinische Werke gelesen, deshalb kenne ich mich auf manchen Gebieten schon gut aus.«
    »Dann kann dir ja nichts passieren.« Abraham amüsierte sich im Stillen.
    Er fragte sich, ob Heinrich auch so unbeschwert daherplaudern würde, nachdem er bei Professor Wrisberg unter anderem Splanchnologie, Angiologie, Neurologie, Osteologie, Syndesmologie und Myologie gehört hatte, bei Kaestner vielleicht Mineralogie und Theorie der Erde, bei anderen sphärische Trigonometrie, Stereometrie oder angewandte Arithmetrik. Aber es machte natürlich keinen Sinn, dem jungen
Fuchs
Angst einzujagen. Er würde noch früh genug merken, dass seine Kommilitonen nicht umsonst vom Pauken oder Ochsen sprachen, wenn sie sich in kurzer Zeit tausenderlei an Informationen und Begriffen, an Zahlen und Zusammenhängen einprägen mussten.
    »Komm, Heinrich, lass uns hineingehen.«
    »Ja, Julius.« Wie selbstverständlich hakte Heinrich sich bei Abraham unter und schritt mit ihm ins Gebäude.
     
     
    Wie sich zeigte, ersparte sich Professor Richter die Mühe, den Stoff vom Vortag zu repetieren, denn nach einer knappen Begrüßung sprach er sofort ein neues Thema an. Zu diesem Zweck hatte er eine große Schautafel mit über zwanzig chirurgischen Instrumenten aufhängen lassen und erklärte in kurzen Sätzen deren Namen und Bedeutung: »Als da sind A/B: kleine und große Lanzetten zum Aderlassen sowie zum Öffnen von Abszessen und Ähnlichem, C: eine gute gerade Schere, um allerlei zu schneiden, D: eine starke krumme Schere, um Fisteln und anderes zu öffnen, E: ein Zänglein, gemeinhin Korn-Zänglein genannt, um Splitter herauszupräparieren. Dieses Korn-Zänglein kann von Stahl sein, aber sauberer bleibt es, wenn es von Silber ist, F: ein Schermesser, G: ein Incisionsmesser, H: ein krummes Incisionsmesser …«
    Danach wandte Richter sich den Brüchen zu und gab einen kurzen Abriss über das große Gebiet der Frakturen, wobei er es nicht versäumte, auf seine zweibändige
Abhandlung von den Brüchen
zu verweisen, dann folgten die Verrenkungen, dann die Geschwülste und Geschwüre. Natürlich streifte er die Gebiete nur, um einen Eindruck über die Inhalte dieses ersten
Collegiums
zu geben, dennoch schwirrte den neuen Studenten alsbald der Kopf.
    Was gestern noch in beschaulichem Tempo referiert worden war – als allgemeiner Auftakt über die Schmerzen –, wurde heute straff und ohne Pause vorgetragen. Abraham, der das alles schon kannte, erging es nicht so, aber er war ja nicht wegen der Vorlesung gekommen, sondern weil Richter ihn dazu ausdrücklich aufgefordert hatte.
    Während Heinrich wie gebannt den Ausführungen des Ordinarius lauschte, hatte Abraham Muße, seinen Blick schweifen zu lassen. Ja, ein Großteil der Studenten war neu. Wie stets am Anfang eines Semesters kannte er ihre Namen und ihre Gesichter nicht, doch halt! Abraham sträubten sich unwillkürlich die Nackenhaare. Da vorn saß jemand, der neu war und den er trotzdem kannte: Es war der ältere
Bursche
in der Kluft der Pommeraner. Woher kam der Kerl auf einmal? Jetzt sah er auch noch herüber! Abraham wollte den Kopf zur Seite drehen, aber er wusste, dass dies sinnlos war. Früher oder später würde der Pommeraner ihn ohnehin erkennen.
    Und genauso war es, denn Sekunden später zog sich bei ihm ein breites Grinsen von Ohr zu Ohr, gefolgt von einem fragenden Ausdruck im Gesicht. Jetzt wunderst du Halunke dich, wieso ein alter Puppenspieler dazu kommt, Medizin zu studieren, dachte Abraham grimmig. Wie ich dich einschätze, wird es dir ein Vergnügen sein, mich wegen meiner Darbietung am Albaner Tor anzuschwärzen, aber es wird dir nichts nützen, da dies ohnehin mein letzter Tag an der Georgia Augusta ist.
    »… und danke ich euch, meine Herren, für eure Aufmerksamkeit. Für Fragen und Anregungen stehe ich euch noch gern zur Verfügung.«
    Richter hatte seine Ausführungen beendet und ließ von einem Assistenten des Pedells die Schautafel abhängen. Wie nicht anders zu erwarten, drängten sich sofort wieder viele
Burschen
um ihn, belegten ihn mit Beschlag und quetschten ihn aus. Die meisten von ihnen waren
Füchse.
Heinrich dagegen blieb sitzen, klappte sein Heft zusammen und sagte: »Wie sieht’s aus, Julius, gehen wir noch auf ein Glas zum
Schnaps-Conradi?
«
    »Glaubst du denn, so viel Zeit zu haben? Ich meine, willst du das Gehörte nicht nacharbeiten?«
    Heinrich schlug die Augen nieder. »Es könnte ja ein sehr kleines Glas sein?«
    Abraham legte

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