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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Heinrich den Arm kameradschaftlich um die Schultern und sagte: »Ein andermal bestimmt. Glaube nicht, ich hätte vergessen, dass ich dir noch einen schuldig bin. Aber heute kann ich nicht. Ich habe eine Verabredung mit Professor Richter.«
    »Worum geht es denn?«
    »Du bist recht neugierig, wie?«
    Heinrich schlug abermals die Augen nieder. Abraham sah, dass er lange, seidige Wimpern hatte. »Verzeihung, Julius.«
    »Lass dir von einem alten
Philistranten
einen Rat geben: Versuche vom ersten Tag an, alles zu verstehen und alles zu behalten. In den nächsten Wochen und Monaten wird die Basis für dein gesamtes medizinisches Wissen gelegt, das darfst du nie vergessen. Wenn du jetzt das Studium unterschätzt, wirst du es bitter bereuen, im Zweifelsfall musst du sogar ein oder zwei Semester wiederholen. Umso später bist du dann fertig.«
    »Du müsstest doch eigentlich auch schon mit dem Studium fertig sein?«
    »Donner und Doria, von wem weißt du das denn?«
    Heinrich spitzte die Lippen. »Ach, ich hab’s heute Morgen auf dem Hof gehört. Stimmt es denn?«
    »Ja, es stimmt. Aber nicht, weil ich zu wenig gepaukt hätte, es hatte andere Gründe.«
    »Welche denn?«
    Abraham wurde es allmählich zu viel. Er nahm den Arm von Heinrichs Schultern und sagte: »Dafür, dass ich dein Vater sein könnte, bist du etwas respektlos.«
    »Du bist aber nicht mein Vater.« Heinrich schaute unschuldsvoll. »Warum hast du ein Semester ausgesetzt?«
    »Darüber möchte ich nicht sprechen. Es war, äh, wegen meiner Dissertation. Teilweise jedenfalls. Es ist eine sehr aufwendige Arbeit, ich brauchte einfach zusätzlich Zeit für meine Recherchen.«
    »Erzähl mir davon.«
    Abraham blickte zu Richter, der noch immer von Fragern umlagert war, und sagte: »Die Arbeit handelt von den inneren Veränderungen des Auges, sie heißt
De Oculi Mutationibus Internis.
«
    »Wundervoll! Ich habe am Schwarzen Brett gelesen, dass der Professor in den nächsten Tagen über das innere Auge referieren will, allerdings nicht hier, sondern zu Hause in seinen Privaträumen. Meinst du, wir sollten hingehen?«
    »Für dich kommt der Stoff noch zu früh.«
    »Wirst du denn hingehen?«
    »Nun, vielleicht.« Abraham fand, dass Heinrich wirklich recht hartnäckig war, allerdings stellte er seine Fragen in einer Art, die es einem schwermachte, ihm das zu verübeln. »Ich sehe gerade, dass der Professor sich der Schmeißfliegen hat entledigen können. Ich werde jetzt zu ihm gehen.« Abraham steckte seine Sachen in die Rocktaschen. »Und du wirst nach Hause gehen – pauken.«
    »Ja, Julius.«
    Wenig später schritten Abraham und Richter Seite an Seite über den großen Hof. »Mein lieber Abraham«, begann der Ordinarius, wie üblich die Hände hinter dem Rücken gefaltet, »ich habe mir seit unserem gestrigen Gespräch ziemlich den Kopf über Euch zerbrochen, und ich muss gestehen, in Eurer Haut möchte ich nicht stecken. Darf ich ganz offen sein?«
    »Selbstverständlich, Herr Professor.«
    »Nun, Abraham, ich verrate Euch nichts Neues, wenn ich betone, dass Ihr tatsächlich ein herausragender Student seid, aber leider seid Ihr nicht nur das. An Euch hängt, frei herausgesagt, gleich dreierlei Makel: Ihr seid arm, Ihr seid alt, und Ihr seid anders – jedenfalls im Vergleich zu Euren Kommilitonen. Die letzten beiden Punkte wären nicht weiter schlimm, wenn Ihr einen Adelstitel besäßet, doch leider ist dem nicht so.«
    »Es tut mir leid, dass ich kein Sohn von Georg  III . bin.«
    Richter stutzte. »Nun, ich kann Euren Sarkasmus verstehen, aber versteht bitte auch die Georgia Augusta. Je mehr ihrer Studenten von hoher Herkunft sind, desto höher ist auch ihre Wertschätzung. Und je höher ihre Wertschätzung ist, desto mehr Studenten wollen sie besuchen. Das wiederum sehen Rat und Bürgermeister gern, denn die halbe Stadt lebt von den
Burschen.
«
    »Ich kann nichts dafür, dass ich arm bin.«
    »Was ich auch nicht behauptet habe. Ich will nur deutlich machen, dass alles nicht so einfach ist.«
    »Gewiss.« Abraham blieb stehen und deutete eine Verbeugung an. »Entschuldigt meine Bitterkeit, aber es ist schwer, zu akzeptieren, dass sich alles im Leben nur ums Geld dreht.«
    »Aber es ist so, Abraham.«
    »In jedem Fall danke ich Euch, dass Ihr Euch höheren Orts für mich verwendet habt. Das war mehr, als ich erwarten durfte. Wenn ich mein Studium schon nicht beenden kann, werde ich wenigstens versuchen, meine Dissertation fertigzuschreiben. Ihr kennt sie ja,

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