Das Lied der Klagefrau
weil wir das Thema gemeinsam festgelegt haben. Mit Eurer Erlaubnis werde ich sie Euch widmen.«
»Das werdet Ihr?«
»Jawohl, Herr Professor, ich danke Euch nochmals, und ich … ich …« Abraham kämpfte mit den Gefühlen, die ihn zu überwältigen drohten. »Ich wünsche Euch einen guten Tag.« Er machte abrupt kehrt, wurde aber von Richter zurückgehalten.
»Nicht so schnell, nicht so schnell, ich war noch nicht fertig.«
Abraham blieb stehen.
»Es gibt für Euch vielleicht eine Möglichkeit, durch eigene Arbeit den Rest Eures Studiums zu finanzieren.« Richter senkte die Stimme. »Und zwar ohne bauchrednerische Qualitäten, wenn Ihr versteht, was ich meine. Kennt Ihr Doktor Stromeyer?«
»Doktor Stromeyer, den Arzt vom Akademischen Hospital? Ich bin ihm ein paarmal über den Weg gelaufen.«
»Stromeyer selbst strotzt vor Gesundheit, aber er hat eine kränkelnde Mutter. Die Gute liegt seit ein paar Tagen auf den Tod. Stromeyer weicht nicht von ihrer Seite, er will sie bis zum Schluss begleiten. Ich als Hospitaldirektor habe ihn für diese Zeit selbstverständlich von seinen Obliegenheiten befreit. Natürlich könnte ich seine Aufgaben übernehmen, aber wie Ihr wisst, bin ich ein ziemlich beschäftigter Mann. Neben den
Collegia
und der
Chirurgischen Bibliothek,
die regelmäßig herausgegeben sein wollen, schreibe ich, wann immer mir Zeit dafür bleibt, an meinem Werk über die
Anfangsgründe der Wundarzneykunst.
Mit einem Wort: Ich brauche jemanden, der mir Stromeyer ohne große Bürokratie ersetzt.«
Abraham hatte mit wachsendem Staunen zugehört. »Und Ihr meint, ich könnte …?«
»Das meine ich. Wenn ich eben sagte ›ohne große Bürokratie‹, dann wollte ich damit zum Ausdruck bringen, dass Ihr Euer Geld zunächst aus meiner Privatschatulle bekommt. Ich schlage vor, zwei Taler die Woche. Das ist natürlich nicht so viel, wie Doktor Stromeyer erhält, aber immerhin vergleichbar mit dem, was Hasselbrinck, der Hospitalwärter, kriegt.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Sagt nichts, sondern hört mir weiter zu: Da Ihr noch ein halbes Jahr Studium vor Euch habt und Stromeyers Mutter sicher vorher das Zeitliche segnen wird, ist Euch langfristig nicht mit einer Vertretung des Hospitalarztes gedient. Ihr werdet deshalb später als sogenannter Obergehilfe weiterarbeiten. Der Obergehilfe ist ein Posten, den ich schon seit langem einrichten will. Ich habe dafür ältere Studenten, in Sonderheit solche im letzten Semester, vorgesehen. Demnächst werde ich eine Eingabe bei der Hohen Königlichen Regierung in Hannover machen, um mir die neue Stelle und das dazugehörige
Stipendium extraordinarium
genehmigen zu lassen.«
Richter unterbrach sich und lächelte. »Ihr seht, Euer Glück soll nicht allein vom Tod der alten Madame Stromeyer abhängen.«
Abraham wusste kaum, wie ihm geschah. Niemals hätte er gedacht, dass Verzweiflung und Freude so nah beieinanderliegen können.
»Was ist, schlagt Ihr ein?« Richter hielt Abraham die Hand hin.
»Natürlich, selbstverständlich!« Abraham dachte an Alena und den Satz, dass alles immer irgendwie weiterging, ergriff Richters Rechte und bearbeitete sie wie einen Pumpenschwengel.
»Autsch! Mann Gottes, Ihr habt ja einen Händedruck wie ein Schmied! Aber der Art Eures Zupackens entnehme ich, dass Ihr einverstanden seid. Lasst mich in diesem Fall etwas hinzufügen: Die Arbeit im Hospital ist keine Kleinigkeit, Ihr werdet dort jeden Tag viele Stunden verbringen, Stunden, die Euch fürs Studium fehlen. Traut Ihr Euch die doppelte Belastung zu?«
»Ja, Herr Professor!« Abraham jubelte innerlich. Der rettende Strohhalm war da. Endlich! Was wohl Alena dazu sagen würde?
»Dann sind wir uns einig. Kommt morgen früh um zehn zum Geismartor, dort liegt, wie Ihr wisst, das Hospital. Dann werde ich Euch einweisen.« Richter zog aus der Westentasche seine Uhr und erschrak. »Sapperlot, schon so spät? Nun muss ich aber! Also bis morgen, Abraham.«
»Bis morgen, Herr Professor, ich werde pünktlich sein!«
Es sollte noch bis zum späten Nachmittag dauern, bis Abraham seine Freude mit Alena teilen konnte, denn diese war von der Witwe fortgeschickt worden, um eine Reihe von Besorgungen zu erledigen. So saß Abraham in seinem Arbeitszimmer, hochgestimmt und voller Elan, dachte an die künftigen Aufgaben im Hospital, versuchte, sich auf die vor ihm liegende Dissertation zu konzentrieren, schaffte das selbstverständlich nicht, malte sich eine rosige Zukunft
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