Das Lied der Klagefrau
Professor?«
»Nein«, antwortete Abraham, »der Professor ist nicht da, Ihr müsst mit mir vorliebnehmen. Mein Name ist Abraham.«
»Doktor Abraham«, ergänzte Hasselbrinck mit wichtiger Miene.
Flessner hustete. »Jawohl, soll mir recht sein. Hauptsache, jemand kann meinen Kumpeln helfen.«
»Wo sind die Patienten?«, fragte Abraham.
»Noch auf dem Wagen.« Wieder hustete Flessner. Dann deutete er in Richtung Remise.
Abraham ging zur Remise, deren Tor weit geöffnet war, und schaute die Kranken an. Viel war von ihnen nicht zu sehen, denn sie waren bis ans Kinn in dicke Decken eingewickelt. Ihr Gesichtsausdruck war der von Schlafenden, friedlich und entspannt, nur mit dem Unterschied, dass sie die Augen offen hielten. Abraham merkte schnell, dass sie nicht ansprechbar waren und ihre Pupillen auf kein Zeichen reagierten. Er befahl Hasselbrinck und Flessner, die drei in den leeren Patientensaal im ersten Stock zu tragen.
»Jawoll, Herr Doktor«, sagte Hasselbrinck und kratzte sich am Kopf. »Entschuldigt, wenn ich’s sage, aber es ist wegen dem Transport. Wäre es nicht einfacher, die Männer unten einzuquartieren, wir haben da doch noch zwei Kammern frei?«
Abraham überlegte kurz. »Nein, es bleibt dabei. Ich möchte die drei nebeneinanderliegen haben, um ihre Symptome besser vergleichen zu können. Die Kammern unten bieten jeweils nur zwei Patienten Platz.«
»Jawoll, Herr Doktor.«
Abraham zwang sich dazu, nicht mit anzufassen, denn das wäre seiner Würde als stellvertretender Hospitalarzt abträglich gewesen, und stieg hinauf in sein Zimmer hinter dem Patientensaal. Dort öffnete er den Brief, begann zu lesen und musste sich erst einmal setzen. Zu ungewöhnlich war das, was ein gewisser Doktor Tietz an Richter schrieb. Nach allgemeinen Präliminarien über die Wertschätzung des Herrn Hofrats, der Würdigung seiner Verdienste und der guten Wünsche für sein Wohlbefinden, erlaubte Tietz sich, auf die Tatsache zu verweisen, dass er vom Herrn Professor promoviert worden sei, worauf er noch heute stolz sei und weshalb er auch die Kühnheit habe, sich an ihn zu wenden.
Abraham erfuhr im Weiteren, dass es sich bei den drei Kranken um die Bergleute Pentzlin, Burck und Gottwald handele, die Opfer eines Grubenunglücks in Bad Grund geworden seien. Es folgten genaue Ausführungen über die Bemühungen, die Tietz im Rahmen seiner Behandlungsversuche unternommen hatte, sowie der Hinweis, dass sogar ein weiterer Kollege hinzugezogen worden sei, der aber leider auch nicht zu helfen vermochte. Die ganze Hoffnung läge jetzt in den erfahrenen Händen des Herrn Professors, der gewiss die rechte Therapie wüsste. Bei Rückfragen sei er gern bereit, weitere Auskünfte zu erteilen. Mit der vorzüglichsten Hochachtung und so weiter und so weiter …
Abraham faltete den Brief zusammen, legte ihn fort – und nahm ihn wieder zur Hand. Er las ihn nochmals, Zeile für Zeile, und dachte: So macht man das also, wenn man nicht weiterweiß: Man schickt seine Patienten einfach zu seinem alten Professor.
Seine kritischen Gedanken wurden von Schnauf-, Ächz- und Poltergeräuschen unterbrochen, denn auf der anderen Gangseite wurden Richters neue Patienten in den Saal getragen. Richters neue Patienten? Abraham seufzte. Zunächst einmal waren es seine Patienten, obwohl er sie am liebsten zu Tietz, diesem Drückeberger, zurückgeschickt hätte. Aber das kam selbstverständlich nicht in Frage. Er stand auf, ging hinüber und bemerkte mit Befriedigung, dass seine Anweisungen präzise ausgeführt worden waren. Alle drei Patienten lagen frisch verbunden da, Kopf an Kopf wie die Ölsardinen, und schienen gegen die Decke zu starren. »Flessner, ich bitte Euch auf ein Wort in mein Zimmer«, sagte Abraham und ging voran. Er setzte sich wieder an seinen Tisch und ließ Flessner, da kein zweiter Stuhl vorhanden war, notgedrungen stehen.
»Flessner, ich habe den Brief an Professor Richter sorgfältig durchgelesen und bin über die ärztlichen Bemühungen, die an Pentzlin, Burck und Gottwald vorgenommen wurden, genau im Bilde. Wie es scheint, handelt es sich um sehr ungewöhnliche Fälle, deshalb kann alles, was mit dem Unglück zu tun hat, von größter Wichtigkeit sein. Bitte schildert mir den Hergang des Unfalls in allen Einzelheiten, auch die kleinste Kleinigkeit kann wichtig sein.«
Flessner scharrte mit den Füßen, dann erzählte er von dem Unglück, wie schnell alles gegangen sei und dass man die Hoffnung, die drei zu finden, schon
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