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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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fast aufgegeben hätte. Doktor Tietz hätte Pentzlin, Burck und Gottwald, die im Übrigen Familie besäßen und feine Kerle seien, untersucht, aber er wäre wohl nicht recht weitergekommen.
    »Und dann?«, fragte Abraham.
    Dann hätte der Doktor den Brief geschrieben und ihn zu sich gerufen. Er hätte ihm gesagt, er solle die drei Kumpel nach Göttingen zu Richters Hospital fahren, und zwar sofort, die Genehmigung des Bergwerkdirektors läge schon vor. Es sei keine Zeit zu verlieren.
    »Aber von Bad Grund nach Göttingen sind es mindestens dreißig Meilen«, wandte Abraham ein.
    »Eher vierzig, Herr Doktor. Bin seit Montagmittag unterwegs, bin über Denkershausen und Northeim und Elvese gefahren, hab mich höllisch beeilt, aber schneller ging’s nicht.«
    Abraham musste dem Bergmann recht geben, er hatte die mühsame Strecke in knapp zweieinhalb Tagen geschafft. Ihm war in keinem Fall etwas vorzuwerfen, eher schon diesem Doktor Tietz, dem als Arzt klar gewesen sein musste, dass ein so langer Transport den Tod der Patienten hätte bedeuten können. »Ihr habt Euch wacker gehalten, Flessner.«
    »Danke, Herr Doktor.« Flessner hustete qualvoll.
    »Habt Ihr den Husten schon länger?«
    »Vielleicht zwei oder drei Jahre.«
    »Blutiger Auswurf dabei?«
    »Nein, Herr Doktor.«
    »Ihr habt ganz offenkundig eine Staublunge. Es wäre besser, Ihr würdet in frischer Luft leben, vielleicht im Land der Eidgenossen oder an der See.«
    Flessner lächelte schief. »Im Land der Eidgenossen und an der See gibt es keine Bergwerke, Herr Doktor, und ich bin Steiger, kann auch nichts anderes.«
    »Natürlich, natürlich.« Die Überflüssigkeit seines Ratschlags war Abraham in dem Moment klar gewesen, als er ihn ausgesprochen hatte.
    »Was wird aus meinen Kumpeln? Kriegt Ihr die wieder hin?«
    »Ich werde sehen, was ich machen kann. Heute Abend oder morgen wird sich auch Professor Richter der Patienten annehmen können.«
    »Danke, Herr Doktor. Da ist noch was.«
    »Ja, was denn?«
    »Ich hab Geld mit von den Familien, aber ich weiß nicht, ob’s für die Behandlung reicht.«
    Abraham musste lächeln. An diesen Punkt hätte er zuallerletzt gedacht, aber natürlich war es richtig, die Kosten anzusprechen, denn das Hospital arbeitete nicht für Gotteslohn. »Das müsst Ihr mit Hasselbrinck regeln, der ist dafür zuständig. Und fragt ihn bei der Gelegenheit auch gleich, wo Ihr für eine Nacht unterkommen könnt.«
    »Jawohl, Herr Doktor, allerdings, wenn’s recht ist« – Flessner drehte seine Bergmannskappe in der Hand –, »würde ich gern so lange hierbleiben, bis die Kumpel wieder auf den Beinen sind, dann könnte ich sie gleich wieder zurückfahren. Jedenfalls wünschen’s die Familien so, und der Herr Direktor von der Grube hat auch gesagt, ich dürfte so lange bleiben, wie’s dauert.«
    »Nun gut, auch das könnt Ihr sicher mit Hasselbrinck regeln.«
    »Vielen Dank, Herr Doktor.«
     
     
    Bis zum Abend beschäftigte Abraham sich eingehend mit den drei Neuzugängen. Er machte mit ihnen alles das, was auch Tietz schon unternommen hatte, und kam zu dem gleichen Ergebnis: Die Patienten litten an einer Art Bewusstlosigkeit, die ihr Reaktions- und Sprechvermögen ausschaltete. Alle Versuche, diese Bewusstlosigkeit zu beenden, schlugen fehl. Abraham spürte tiefe Enttäuschung, dachte aber nicht daran, aufzugeben. Als er hörte, dass ganz in der Nähe in der Kurzen Straße ein Leierkastenspieler von Haus zu Haus zog, beorderte er den Mann umgehend vors Hospital und ließ ihn eine halbe Stunde lang seine Weisen vortragen. Während dieser Zeit beobachtete er seine Patienten auf das genaueste, aber nichts, gar nichts, war an Veränderungen festzustellen. Sie lagen nach wie vor da wie lebende Tote.
    Danach hatte er es mit dem Zufügen von Schmerzen versucht. Er hatte eine Knochenzange genommen und die ihm Anvertrauten an den verschiedensten Körperstellen gezwickt, an Armen, Beinen, Rumpf und sogar am Ohrläppchen – alles vergebens.
    Schließlich war er auf eine letzte Idee gekommen, nachdem Hasselbrincks Frau zum Abendessen gebeten und sich bei dieser Gelegenheit über den betrügerischen Eierverkäufer beschwert hatte, weil drei seiner Hühnerprodukte faul gewesen waren und erbärmlich stanken. Abraham hatte die drei Eier in eine Schüssel legen lassen und diese mit einiger Überwindung seinen Patienten unter die Nase gehalten. Doch auch dieser letzte Versuch war genauso erfolglos verlaufen wie alle anderen.
    Abrahams

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