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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Gegenüber durchs Gesicht ziehen, doch er hatte nicht mit Abrahams Schnelligkeit gerechnet. Es war die Schnelligkeit eines alten Überlandfahrers, entstanden aus der Notwendigkeit, immer und überall mit Gefahren zu rechnen. Noch bevor der Hieb ihn traf, riss Abraham den Arm hoch, packte das Handgelenk seines Angreifers und drückte mit großer Kraft zu.
    Von Zwickow wollte sich losreißen, zog, zuckte, zappelte, doch es war, als stecke seine Hand in einem Schraubstock. »Du, du …!«
    Abraham lächelte, während er von Zwickow weiter unverwandt anstarrte. Dann verstärkte er den Druck, mehr und mehr, bis von Zwickow den Schmerz nicht mehr aushielt und die Waffe fallen lassen musste. Der Hieber landete auf der Straße, zwei Schritte entfernt, in einer Ansammlung von Pferdeäpfeln.
    »Nun heb dein Spielzeug auf und scher dich fort.«
    Von Zwickow murmelte etwas, rieb sich das Handgelenk und gehorchte mit feuerrotem Kopf. Dann stahl er sich davon.
    Abraham atmete tief durch und setzte seinen Weg fort. Er spürte tiefe Genugtuung, es diesem Arroganzling gezeigt zu haben, aber auch Sorge, denn ihm war klar, dass er ab jetzt einen unversöhnlichen Feind hatte.
     
     
    Wie angekündigt, war Abraham am Nachmittag um drei Uhr wieder im Hospital, wo sich in seiner Abwesenheit nichts Besonderes ereignet hatte. Er ging hinauf in Stromeyers Stube, die jetzt die seine war, setzte sich an den Tisch und breitete die mitgebrachten Unterlagen für seine Dissertation aus. Es schien ihm wichtig, seine Dienstzeit nicht nur abzusitzen, sondern sie sinnvoll zu nutzen. Doch es dauerte eine Zeit, bis er sich auf die Arbeit konzentrieren konnte, denn wie befürchtet, hatten Alena und die Witwe mit dem Essen auf ihn gewartet und waren über sein Ausbleiben keineswegs erbaut gewesen. Es hatte mancher Erklärung und Entschuldigung bedurft, bis beide versöhnt waren und die Hausherrin gesagt hatte: »Julius, versprich mir steif und fest, dass so was nicht wieder vorkommt.« Und er hatte es hoch und heilig versichert. »Dann ist es gut, du hast das letzte Gewölk unseres Missvergnügens zerstreut. Nicht wahr, Alena, das hat er doch?« Und Alena hatte genickt.
    Anschließend waren er und Alena nach oben in ihre Zimmer gegangen, wo er ihr das Erlebte geschildert hatte. Die Zeit war wie im Fluge vergangen, und ehe er sich’s versah, hatte er den Rückweg zum Hospital antreten müssen.
    Abraham las noch einmal sorgfältig, was er als Letztes geschrieben hatte – spitzte die Feder, tauchte sie ein und formulierte zunächst auf Deutsch:
    § 25
    VERSCHIEDENE HYPOTHESEN
    ÜBER DIE VERÄNDERUNGEN DES AUGES
    Die Linse verändert die Gestalt.
Die Linse wird vorwärts und rückwärts geführt.
Die ganze Zwiebel hat eine veränderliche Länge.
Die Hornhaut verändert ihre Konvexität.
Die Augenflüssigkeiten werden zum Nahsehen dichter.
    Er griff zum lateinischen Wörterbuch und übersetzte:
    § 
25
    VARIAE VARIORUM
    DE OCULI MUTATIONIBUS HYPOTHESES
    Lens Crystallina figuram mutat.
Lens Crystallina antrorsum retrorsumque ducitur.
Totus bulbus longitudem …
    Er schreckte hoch. Die Tür war aufgerissen worden, Hasselbrinck stand atemlos vor ihm. »Herr Doktor, ich bitte um Verzeihung, aber unten sind neue Patienten eingetroffen, gleich drei auf einmal, liegen alle auf einem Wagen, der Kutscher ist ein Bergmann, er sagt, er heißt Flessner, es wär sehr dringend. Ich sagte, im Moment wär niemand von der Hospitalleitung zu sprechen, weil Ihr ja Eure Arbeit schreibt, aber er gab keine Ruhe, ließ sich nicht abwimmeln, er hätte auch einen Brief, der wär sehr wichtig.« Hasselbrinck zuckte hilflos mit den Schultern.
    Abraham legte die Feder zur Seite. »Ich komme.«

[home]
    Von dannen Er …
    F lessner, der Steiger, hatte die Pferde abgeschirrt und den flachen Transportwagen in die Remise gestellt. Er hielt einen versiegelten Brief in der Hand, den er Abraham gleich nach dem Entbieten der Tageszeit übergab. »Den hab ich für Euch.«
    Abraham griff zögernd nach dem Umschlag und schaute auf die Adresse:
An den hochverehrten Herrn Hofrat Professor Doktor A. Gottlieb Richter
stand da, und klein darunter:
oder Vertreter.
Und wieder groß:
Akademisches Hospital zu Göttingen am Geismartor.
Abraham dachte im ersten Moment, der Brief ginge ihn nichts an, denn schließlich war Stromeyer der Vertreter Richters, aber dann fiel ihm ein, dass er ja der Vertreter Stromeyers war – zwar inoffiziell, aber immerhin.
    Flessner fragte: »Seid Ihr der berühmte

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