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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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ernüchterndes Fazit war, dass die Kranken ebenso wenig auf Musik, Schmerz und Gestank reagierten wie auf die bereits von Tietz durchgeführten Untersuchungen.
    Die Unempfindlichkeit gegenüber Gestank musste später auch Hasselbrinck leidvoll feststellen, denn einer der Patienten entleerte sich völlig teilnahmslos ins Bett. Der Hospitalwärter fluchte und versuchte daraufhin, die Patienten für die kommenden Stunden auf den Nachtstuhl zu setzen, aber auch dieses Unterfangen misslang, obwohl die alte Grünwald ihn nach Kräften unterstützte. Pentzlin, Burck und Gottwald klappten, sobald man sie losließ, zusammen wie die Taschenmesser. Die einzige Möglichkeit war, für alle drei einen Botschamper im Bettboden zu installieren, was sich als mühsam erwies und nur durch das Aussägen eines Lochs zu bewerkstelligen war.
    Mittlerweile war es acht Uhr geworden, Abraham dachte an Alena, an die Witwe und verstärkt an Professor Richter. Hatte der Hospitaldirektor nicht versprochen, täglich nach dem Rechten sehen zu wollen?
    Abraham schob die nutzlosen Gedanken beiseite. Er setzte sich in seine Stube und spitzte die Feder, denn ihm war eingefallen, dass für Pentzlin, Burck und Gottwald ein Krankenjournal eingerichtet werden musste. Er legte für jeden eines an und schilderte darin minutiös seine Beobachtungen. Die Angabe der Diagnose musste er schuldig bleiben, was ihn besonders verdross. Stattdessen schrieb er in jedes Journal den abschließenden Text:
Die fünf Sinne scheinen gestört. Es mag sein, dass der Patient fühlen, hören, sehen, riechen und schmecken kann, aber es ist ihm nicht anzumerken. Vermuteter Grund: Apathie. Vielleicht auch Paralyse des
Cerebrums.
Sprache und muskuläre Kontrolle fehlen. Grundfunktionen wie Atmen, Aufnehmen und Ausscheiden von Nahrung sind dagegen ebenso zu konstatieren wie regelmäßiger Wimpernschlag.
Er überlegte einen Augenblick, dann, weil er glaubte, dass Richter besonders daran interessiert sei, schrieb er dazu:
Augen wandern nicht,
miosis
und
mydriasis
der Pupille sind jedoch bei unterschiedlich starkem Lichteinfall festzustellen; Verkleinerung und Vergrößerung gleichzeitig bei der Pupille des Gegenauges zu beobachten.
    Danach legte er die Feder beiseite. Weil er sich noch geringe Hoffnung auf Richters Erscheinen machte, blieb er sitzen und nahm sich sämtliche Journale der ehemaligen Patienten vor, in der Erwartung, einen Parallelfall zu entdecken und daraus Erkenntnisse ziehen zu können. Aber so sorgfältig er auch las, einen ähnlichen Fall hatte es nie gegeben. Abraham presste die Lippen zusammen. Es konnte doch nicht sein, dass dieses Phänomen eines Krankheitsbilds zum ersten Mal ausgerechnet bei ihm auftrat! Er wandte sich Stromeyers Buchregal zu und ging dessen Literatur durch. Wieder nichts. Es war wie verhext! Nochmals nahm er sich die Journale vor und blieb schließlich bei dem des Zinngießers Warners hängen. Was hatte Richter da an die Seite gekritzelt?
Abwarten, manches heilt die Natur selbst.
    Abraham beschloss, der Empfehlung zu folgen, nicht zuletzt, weil ihm nichts Besseres einfiel. Dennoch blieb ein unbefriedigendes Gefühl zurück. Es gab für einen Arzt nichts Schlimmeres, als vergebens nach der Ursache eines Leidens zu forschen, denn Unwissenheit bedeutete nichts anderes als Unfähigkeit – die Unfähigkeit, zu heilen.
    Mit diesem Gedanken begann er, die Journale zu ordnen. Er sortierte sie chronologisch zu einem großen Stapel und stieß den Stapel anschließend um, ohne es zu bemerken, denn sein Kopf war nach vorn auf die Tischplatte gesunken.
    Er war eingeschlafen.
    Die Arbeit im Hospital war in der Tat sehr anstrengend.
     
     
    Zu dem Zeitpunkt, als Abraham vor Erschöpfung über den Journalen einschlief, herrschte beim
Schnaps-Conradi
alles andere als Schläfrigkeit, im Gegenteil, in der Kneipe ging es hoch her, Philister und
Burschen
rauchten, tranken, lachten und furzten ungeniert, niemand tat sich einen Zwang an, obwohl an diesem Abend sehr hochwohlgeborene Herrschaften unter den Gästen weilten. Es handelte sich um keine Geringeren als die drei jüngsten Söhne Seiner Majestät König Georgs  III . von England, den dazugehörigen Schranzen ihres Hofstaats und den weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten Professor Georg Christoph Lichtenberg.
    Lichtenberg, der bald seinen siebenundvierzigsten Geburtstag begehen sollte, war einer, bei dem – wie er wohl selbst gesagt hätte – die Natur den äußeren Putz vergessen hatte. Er war

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