Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
Vom Netzwerk:
von kleinem Wuchs, hatte einen Buckel und neigte seiner eigenen Einschätzung nach zum Kränkeln. Sein Kopf allerdings wog alle Makel auf: Er war groß und markant, steckte voller Brillanz und Dominanz, und seine scharfe Zunge sowie sein treffender Witz wurden gleichermaßen geliebt und gefürchtet.
    Lichtenberg hatte eine Schwäche für das schöne Geschlecht, und er machte daraus – Respektsperson hin oder her – keinerlei Hehl. An diesem Abend hatte er ein Auge auf eine neue Schankmagd geworfen, ein strammes Ding, das keineswegs uneben zu nennen war, und er bestellte ein ums andere Mal bei ihr, obwohl sie für ihn nicht zuständig war. »Einen Rotwein noch, du Tochter der Aphrodite«, rief er mit heller, kräftiger Stimme.
    »Aber Herr Professor«, schmollte die Schöne, »ich hab’s Euch schon gesagt, die Elsie soll Euch heut Abend bedienen.«
    Lichtenberg kicherte, denn er hatte schon mehrere Gläser Wein intus. »Die Elsie darf jeden bedienen außer mir, sie ist eine Frau, der bereits die Tagundnachtgleichen des Lebens im Gesicht stehen, und deshalb nichts für mich und meine hochwohlgeborenen Schützlinge, nicht wahr?«
    »Jawohl, Herr Professor«, sagte Ernst August, der älteste der drei Prinzen, mit englischem Akzent. Und weil er genau wie seine Brüder ein glühender Bewunderer Lichtenbergs war, kicherte er auf ganz ähnliche Weise und fragte: »Wo stehen, äh, diese Tagundnachtgleichen im Gesicht,
Sir?
«
    Lichtenberg winkte ab. »Überall stehen sie, sie werden mit jedem Jahr deutlicher, entpuppen sich als Runen und Runzeln und machen den wenigsten unter uns
Plaisir.
Schaut nur genau hin bei Elsie, meine Herren Prinzen, dann werdet Ihr sehen, was ich meine, und begreifen, warum ich meinen Rotwein nicht bei ihr bestelle. Die unterhaltsamste Fläche auf der Erde ist immer noch das menschliche Gesicht.«
    »Yes, Sir.«
Die drei Prinzen lachten höflich.
    »Meines allerdings schaut gerade etwas enttäuscht, so scheint mir.«
    »Sir?«
    »Weil mein Glas schon wieder leer ist.« Lichtenberg kicherte und bestellte erneut von dem wohlschmeckenden Rotspon. Nachdem die neue Schankmagd es schmollend abgestellt hatte, stieß sie mit einem jungen Mann zusammen, der gerade den Raum betreten hatte.
    Es war Heinrich von Zettritz, der frischgebackene
Fuchs.
»Darf ich mich zu Euch setzen, Herr Professor?«, fragte er etwas schüchtern.
    »Nur immer zu, wir kennen uns ja schon«, rief Lichtenberg jovial. »Ihr wohnt im Büttnerschen Haus, genau wie meine drei Zöglinge. Was unter einem Dach lebt, soll auch zusammen feiern.«
    »Jawohl, Herr Professor.« Heinrich quetschte sich zwischen die Prinzen und saß ein wenig verloren da. Eigentlich hatte er an diesem Abend in die Bücher schauen und das im
Collegium
Gehörte aufarbeiten wollen, doch er war mit seinen Gedanken ständig woanders gewesen. Er hatte an Abraham denken müssen und an dessen Worte, dass ein Studium von Anfang an sehr ernst genommen werden müsse. Angesichts der Fülle des Stoffs, den man sich als
Fuchs
einzuprägen hatte, schien der Weg zu einem erfolgreichen Arzt in der Tat mit Dornen gepflastert zu sein.
    »Prost, Henry«, sagte Adolf Friedrich, der jüngste der englischen Prinzen, und schob ihm ein volles Glas zu. »Trink was, dein Gesicht ist ja gleich wie Tag und Nacht.«
    Ernst August und August Friedrich, der zweitälteste der Prinzen, kicherten.
    Heinrich verstand nicht und lächelte scheu.
    Lichtenberg klärte den Hintergrund der Bemerkung auf und fuhr fort: »Nun, mein lieber von Zettritz, wie ich weiß, reitet Ihr die Medizin im ersten Semester, da wird ein wenig Wissen um die Geheimnisse der Physik nicht schaden. Wie Ihr seht, ist das Glas, das Seine Königliche Hoheit Euch gerade zugeschoben hat, fast bis zum Rand gefüllt. Nennt mir nun eine einfache, aber überzeugende Methode, in dieses Glas Luft zu bringen und gleichzeitig den Rotwein restfrei verschwinden zu lassen.«
    »Nun, Herr Professor« – Heinrich wurde rot –, »ich muss zugeben, dass ich mich in der wissenschaftlichen Erforschung der Naturerscheinungen noch nicht so auskenne.«
    »Das macht nichts. Denkt nur ein wenig nach.«
    »Nun, vielleicht funktioniert das Ganze mit einer Art Unterdruck?«
    »Nein, mein Sohn.« Lichtenberg blickte betont ernst. »Eigentlich eher durch eine Abfolge mechanischer Kräfte.« Dann schaute er in die Runde, um sicherzugehen, dass ihm allseitige Aufmerksamkeit zuteil wurde, ergriff das Glas und leerte es mit drei großen Schlucken.
    Die

Weitere Kostenlose Bücher