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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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beruhigen.«
    Abraham zögerte. Er kannte die in diesem Fall von Richter empfohlenen Schritte, hatte sie auch in seiner Dissertation berücksichtigt, doch es konnte nicht schaden, sich Heinrichs Aufzeichnungen einmal anzusehen. »Nun gut, ich komme mit. Aber wirklich nur kurz.«
    »Fein.«
    Die wenigen Schritte bis zum Büttnerschen Haus schwiegen beide. Heinrich hatte sich wieder bei Abraham einhaken wollen, aber dieser hatte seinen Arm steif gemacht und so getan, als bemerke er die Absicht nicht. Sie stiegen zwei Treppen empor, und Heinrich schloss umständlich eine schwere Tür auf. »Hier ist es, mein Reich«, sagte er. »Ich gehe voran.« Er entzündete ein paar Kerzen, und Abraham hatte Gelegenheit, sich umzusehen. Er hatte sich noch nie Gedanken gemacht, wie es wohl in Heinrichs Bude aussehen möge, war jetzt aber doch überrascht über die peinliche Ordnung, die überall im Raum herrschte. Alles stand an seinem Platz, Tisch, Stühle und eine alte Kleidertruhe aus Brasilholz, an der Wand eine hohe Standuhr und in der Ecke daneben ein Kachelofen, in dem allerdings kein Feuer brannte. »Zieh doch deine Jacke aus, Julius.«
    »Nein, verzeih mir, ich möchte wirklich nicht lange bleiben. Vielleicht nächstes Mal.« Abraham legte die Hände auf den Rücken. »Du hast es hier schön getroffen, aber könntest du mir nun das Mitgeschriebene geben?«
    Heinrich sah Abraham an. In seinen Augen schienen Entschlossenheit und Unsicherheit um die Oberhand zu ringen.
    Abraham streckte die Hand aus. »Bitte, gib’s mir.«
    »Warte hier. Ich hole es aus dem Schlafzimmer.« Heinrich verschwand, und Abraham hatte Muße, sich im Raum umzusehen. Eine kleine Anrichte gab es da noch neben der Truhe, darauf stand ein kleines, farbiges Doppelporträt, offenbar Eheleute, wahrscheinlich Heinrichs Eltern. Abraham nahm das Bild zur Hand und betrachtete die Gesichter eingehend. Der Mann mochte in seinen Dreißigern sein, er trug eine weißgepuderte Perücke und hatte ein freundliches Gesicht, das von einem stattlichen Oberlippenbart bestimmt wurde, seine Gemahlin dagegen wies strengere Züge auf, ihre Nase und ihr Mund wirkten schmal und aristokratisch. Unter dem Bild war in verschnörkelter Schrift zu lesen:
Seine/Ihre Hochwohlgeboren Baron Georg Heinrich von Zarenthin und Gemahlin Auguste Catharina, geb. Freiin zu Burgfeld.
Abraham überlegte. Dem Namen nach handelte es sich wohl doch nicht um Heinrichs Eltern. Er stellte das Bild zurück, sah sich weiter um und fragte sich, warum sein junger Kommilitone so lange brauchte. »Findest du die Unterlagen nicht?«, rief er in Richtung halboffene Tür.
    »Nur einen Augenblick noch.« Heinrichs Stimme klang leise.
    Wieder wartete Abraham. Allmählich wurde er ungeduldig. »Wenn du die Sachen nicht findest, komme ich gern ein andermal wieder. Ich muss jetzt wirklich …«
    »Nein, nein, komm nur herein.«
    Kopfschüttelnd betrat er den angrenzenden Raum – und blieb wie angewurzelt in der Tür stehen. Ein großes, nur durch schwaches Kerzenlicht erhelltes Pfostenbett stand in der Mitte des Zimmers, und auf diesem Bett saß eine junge Frau. Sie trug ein langes, einfaches Kleid aus Blautuch, dazu einen breiten rosa Stoffgürtel mit silberner Schnalle. Am Ansatz ihres zarten Halses hing ein kleines, blitzendes Medaillon, das halb von der Fülle ihres blonden Haars verdeckt wurde. Ihr Gesicht kam Abraham merkwürdig bekannt vor. »Verzeihung, mein Fräulein …«, stotterte er und wusste nicht weiter.
    Über das Gesicht der jungen Frau glitt ein scheues Lächeln. »Erkennst du mich nicht?«, flüsterte sie.
    »Donner und Doria, bist du es wirklich?«
    »Ja, Julius.«
    Abraham war so verblüfft, dass er sich erst einmal setzen musste. Er wählte dazu einen Stuhl neben dem Bett, doch Heinrich – oder vielmehr: die junge Frau – sagte: »Du kannst dich ruhig neben mich setzen, ich beiße nicht.«
    Abraham gehorchte, den Kopf voller Gedankenwirbel. Insgeheim beobachtete er sie aus dem Augenwinkel, doch als er bemerkte, dass sie genau dasselbe mit ihm tat, blickte er fort. Schließlich sagte er: »Was hat das alles zu bedeuten?«
    »Bist du mir böse, Julius?«
    »Nein … ja. Nun ja, vielleicht etwas. Jedenfalls bin ich dir ganz schön auf den Leim gegangen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Du bist mir ziemlich fremd.«
    »Gefalle ich dir nicht?«
    »Doch, doch, es ist nur … wie heißt du überhaupt?«
    »Henrietta.«
    »Und weiter?«
    »Henrietta von Zarenthin.«
    »Also nicht

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